Kati Küppers und der entlaufene Filou

»Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott,
ob es ihm klar ist oder nicht.«

Edith Stein

Prolog

Seine beleidigenden Bemerkungen. Seine stolzgeschwellte Brust. Sein überheblicher Blick. Sein hämisches Lachen. Alles hätte ich ertragen. Aber ihren Namen in seinem Mund. Aus seiner Schnauze. Aus der dreckigen Fresse, die bei jedem Atemzug eine stinkende Wolke ausstieß.

Ich bin ihm nur übers Maul gefahren, ich schwöre. Und plötzlich hat er das Beil in der Hand. Fuchtelt wild damit herum. Reißt es hoch über den Kopf. Klarer Fall von Realitätsverlust. Selbstüberschätzung. Ich sehe noch den hasserfüllten Blick seiner Schweinsäuglein, höre sein Gekeuche. Es kracht und splittert und spritzt. Er liegt am Boden. Kein herablassender Blick mehr. Kein Wort mehr aus seinem Mund. Nie mehr. Endlich ist Ruhe. Himmlische Ruhe. Und ein unbeschreiblicher Frieden in meiner Brust.

Kapitel 1

Die Sonne blinzelte durch die Vorhänge und kitzelte Kati aus dem Schlaf. Hätte das Baugerüst nicht vor dem Fenster gestanden, wäre es viel heller im Zimmer gewesen und sie längst aus den Federn. Ein kurzer Zwischenstopp im Bad musste heute reichen. Aus der Küche duftete es bereits nach Kaffee und frischen Brötchen.

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?« Sie schmiegte sich von hinten an Jo, der den Kaffeefilter zum wiederholten Mal in kreisenden Bewegungen mit kochendem Wasser füllte. In einem Barista-Kurs hatte er gelernt, dass sich das Aroma dadurch besser ausbreiten könne. »Reicht doch, wenn einer aufsteht und Schulbrote schmiert.«

Seitdem Jo in Rente war, hatte er zum Segen für alle die Küche für sich entdeckt. Denn Katis Kochkünste beschränkten sich auf Marmelade und Kaffee. Jedenfalls hatte sie das bis zu diesem Barista-Kurs gedacht. Jetzt war sie sich nur noch ihrer erfindungsreichen Marmeladenkreationen sicher. Das Holunder-Chili-Gelee war für Bene der Hit.

»Danke fürs Schlafenlassen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihrem Mann einen Kuss in den Nacken.

»Gern geschehen.«

»Und Brötchen hast du auch schon geholt«, bemerkte sie erfreut. Sie setzte sich an den gedeckten Tisch und goss einen Schluck Milch in ihre Tasse.

»Nein.« Jo stellte den Kaffeefilter in die Spüle und die Kanne auf den Tisch. »Bene hatte schon geduscht und Brötchen geholt, bevor ich ihn wecken konnte.«

Kati verschränkte die Arme vor der Brust.

»Bene? Interessant. Dabei jammert unsere Tochter immer, dass sie ihn morgens nicht aus dem Bett kriegt.«

Jo hob die Augenbrauen und schmunzelte. »Wir werden sehen, wie lange er das frühe Aufstehen durchhält. Vielleicht hängt es davon ab, wer in der Bäckerei hinter dem Tresen steht.«

»Ach. Weißt du mehr als ich?« Kati säbelte ihr Brötchen in zwei Hälften.

Jo versuchte vergeblich, sein Grinsen zu unterdrücken. »Nö, aber ich war in letzter Zeit öfter beim Bäcker.«

Kati runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ganz billige Nummer, mir den Einkauf unterzuschieben. Aber du hast gewonnen. Das nächste Brot besorge ich.«

Jo füllte ihre Tassen mit Kaffee. »Er scheint Anschluss gefunden zu haben.«

Kati nickte und rührte Zucker in ihren Kaffee. »Das hab ich mir so sehr gewünscht. Und jetzt? Wenn die Wohnung erst renoviert und die Küche geliefert ist, bekommen wir ihn gar nicht mehr zu sehen.«

»Zum Essen wird er schon noch kommen.«

Kati seufzte. »Irgendwie hatte ich mir das alles anders vorgestellt. Erst war ich schockiert, als Christiane mit der Idee um die Ecke kam, nach Niederbroich zu ziehen. Dachte, wir hocken dann nur noch zusammen.«

Jo lachte.

»Wenn die Kinder uns auf die Pelle rücken, kriegst du Muffensausen. Und wenn sie nichts von sich hören lassen, den Flattermann.«

Kati stand auf, küsste Jo und räumte ihren Teller in die Spüle. »Ich bin in der Kirche. Da ist noch einiges zu tun. Wann gibt es Mittagessen?«

»Bei der Hitze? Gar nicht.«

Kati ging zum Küchenfenster und schaute hinaus. Das Baugerüst warf Schatten und ließ den Blick in den Himmel nicht zu. In der Küche war die Temperatur genau nach ihrem Geschmack. Noch.

»Hast du schon Kaffee für Michael gekocht?«

»Heute nicht. Ist doch zu heiß. Aber wenn er Kaffee will, soll er einfach klingeln.«

Kati griff nach einer Wasserflasche und verließ das Haus. Die Hitze traf sie wie ein Schlag und machte das Atmen schwer. Wer konnte, hielt sich im Schatten auf oder drinnen. Dementsprechend leer war die Straße. Kati wusste beim besten Willen nicht mehr, wann es im Mai schon einmal eine solche Hitzewelle gegeben hatte. Michael Schulze turnte mit nacktem Oberkörper auf dem Baugerüst herum und freute sich über das Wasser, das Kati ihm nach oben reichte.

Auf dem kurzen Weg über die Straße lief Kati bereits der Schweiß aus den kurz geschnittenen Haaren und über den Rücken, obwohl es erst kurz nach neun war. Heute hätte sie besser auf ihre Vorliebe für schwarze Oberteile verzichtet, auch wenn sie sich so immer richtig gekleidet fühlte, egal ob eine Beerdigung oder eine Taufe anstand. Der peppige Schal, der ihr Outfit normalerweise abrundete, war nach Jos Äußerungen am Garderobenhaken hängen geblieben.

An Tagen, an denen das Quecksilber über die Dreißiger-Marke kletterte, liebte Kati ihren Arbeitsplatz besonders. Zwar war es auch in der Sakristei stickig und warm, aber im Innern der Kirche empfing sie eine angenehme Kühle, die die Härchen auf Armen und Beinen zum Aufstellen brachte. Die Augen brauchten etwas Zeit, bis sie sich von der gleißenden Helligkeit draußen auf das gedämpfte Licht drinnen eingestellt hatten und man sehen konnte, wohin man trat. Dabei hätte die Küsterin die Kirche im Stockfinstern durchqueren können, ohne irgendwo anzustoßen. Die Dorfkirche von Niederbroich war ihr bis in den letzten Winkel vertraut.

Sie schob die pinke Ponysträhne hinters rechte Ohr und ließ den Blick durch das Gotteshaus schweifen auf der Suche nach Arbeit, die den Aufenthalt im Kühlen notwendig machte. Ihr Augenmerk blieb am Marienaltar im Seitenschiff hängen, auf dem eine Reihe Blumentöpfe mit Begonien stand. Die Pflanzen waren weiß gesprenkelt und machten einen kümmerlichen Eindruck. Kati ahnte bereits die Ursache, bevor sie den Seitenaltar erreicht hatte. Bei den letzten Schritten spürte sie etwas Klebriges unter den Sandalen. Als sie die ersten Wollläuse entdeckte, verzog sie angewidert das Gesicht. Entschlossen griff sie nach dem ersten Topf und dem dazugehörigen Untersetzer und machte sich auf den Weg nach draußen. Dabei schmatzten ihre Schuhe auf dem Steinboden. Ihr war der letzte Blattlausbefall noch gut in Erinnerung. Weil sich das klebrige Zeug, das die Läuse absonderten, wunderbar verteilt hatte, hatte sie den kompletten Gang auf Knien geschrubbt. Zu Hause hätte sie den Boden mit ihrem Wunderputzmittel eingesprüht und mit einem Wisch die Schädlingsspuren beseitigt. Doch der Kirchenboden aus Naturstein vertrug diese Art der Behandlung nicht. Schmierseife war hier das Mittel der Wahl – und zwar sowohl für den Fußboden als auch für die Pflanzen.

Vor der Kirche stellte Kati den Topf in den letzten schattigen Streifen, den das Gotteshaus warf, und eilte zurück in die angenehme Kühle. Wenige Minuten später duckten sich acht Begonientöpfe in den Schatten der Kirchenmauer.

Kati betrat die Sakristei und suchte im hintersten Schrank nach der Schmierseife und einem Putzeimer.

»Tja, heiliger Magnus«, wandte sie sich an den Schutzheiligen gegen Ungeziefer und Würmer, »du hättest mir die Arbeit schnell abgenommen. Ein Wink mit deinem Bischofsstab und schwups …«

Sie rührte die Schmierseife in das lauwarme Wasser, bis sie sich aufgelöst hatte, und kramte die Sprühflasche aus der Schrankecke. Dann befüllte sie die Flasche mit der Seifenlauge und verließ die Kirche. Während sie sorgfältig eine Pflanze nach der anderen einsprühte, summte sie vergnügt vor sich hin. Ihre Bluse klebte am Rücken, und der Nacken hatte bereits ordentlich Sonne abbekommen. Sie besprühte gerade die vierte Begonie, als die Sprühflasche ihre letzten Tröpfchen spuckte. Ein guter Zeitpunkt, sie aufzufüllen und aus der Sonne zu kommen. Selbst die stickige Sakristei empfand sie jetzt als angenehm kühl. Als sie kurz darauf wieder in die Hitze trat, entdeckte sie den kleinen Hund. Er schleckte das Seifenwasser auf, das sich im Topfuntersetzer gesammelt hatte und wich ein Stück zurück, als Kati auf ihn zutrat. Sein weißes kurzes Fell war staubig, die schwarzen Flecken auf dem Rücken struppig. Er war wohl schon einige Zeit allein unterwegs. Das helle Braun um die wachen, dunklen Augen herum ging zwischen den Ohren in Schwarz über, in dem erste graue Härchen schimmerten. Der Jüngste war er wohl nicht mehr.

»Ach, du Armer. Bist du so verdurstet, dass du die olle Seifenlauge säufst?« Auch wenn Kati sich mit Hunden nicht auskannte, war ihr klar, dass der kleine Kerl ihre Hilfe brauchte. »Ich hol dir frisches Wasser.« Der Hund beobachtete jede ihrer Bewegung und blieb auf Distanz.

Kati konnte ihm nicht einfach einen der Topfuntersetzer vor die Schnauze stellen. Selbst wenn sich keine Wollläuse darauf tummelten, hatten sie zumindest ihre klebrigen Rückstände hinterlassen. Sie musste einen sauberen Untersetzer holen, und die standen im Kirchenkeller.

»Bleib von dem Seifenwasser weg. Du kriegst Bauchweh«, ermahnte sie den kleinen Vierbeiner. Dann eilte sie zurück in die Kirche. Als sie die Tür zum Kirchenkeller öffnete, stand ihr plötzlich das Bild von Kaplan Overath vor Augen. Gekrümmt hatte er am Ende der Treppe gelegen. Vergiftet, wie sich bald herausgestellt hatte. Und prompt hatte sie selbst unter Mordverdacht gestanden. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse zu verscheuchen, die noch nicht einmal verjährt waren, und stieg mit Bedacht die Stufen der steilen Treppe hinunter.

Die wenigen Minuten, die sie gebraucht hatte, um den Untersetzer zu holen und mit frischem Wasser zu füllen, hatte der Hund genutzt, sich wieder über die Seifenlauge herzumachen.

»Du dummes Tier«, tadelte Kati ihn. »Komm her, das hier ist viel besser.« Sie schob die Blumentöpfe ein Stück zur Seite, damit sich der Hund in den Schatten hocken konnte, und stellte ihm den Topfuntersetzer mit frischem Wasser vor die Nase. »Trink ruhig weiter, während ich hier die letzten Läuse vertreibe.« Ein paar Minuten später trat sie mit gefüllter Sprühflasche aus der Kirche und wurde mit Schwanzwedeln und einem kurzen Bellen begrüßt.

»Ruhig«, ermahnte Kati den Hund und sprühte die restlichen Wollläuse von den Pflanzen. Dann prüfte sie den Sonnenstand. Der Schattenstreifen vor der Kirche wurde zusehends schmaler. Das würden die Blumentöpfe nicht lange aushalten.

Topf für Topf stellte Kati die Begonien an den Fuß des Marienaltars zurück und achtete jedes Mal penibel darauf, dass der Hund ihr nicht in die Kirche folgte. Dann räumte sie die klebrige Altardecke ab und ersetzte sie durch eine frische.

Kati brachte die leere Sprühflasche zurück in die Sakristei und verstaute die Schmierseife im Schrank. Dann klemmte sie sich die klebrige Altardecke unter den Arm und schloss hinter sich die Tür zur Kirche ab.

Sofort war der Hund an ihrer Seite. Sie blieb stehen. Der Hund tat es ihr gleich. Katis Blick suchte die Straße in beide Richtungen nach Autos oder Radfahrern ab, doch heute Morgen war Niederbroich wie ausgestorben. Michael Schulze stand oben auf dem Gerüst und klebte die Fensterrahmen der obersten Etage mit Kreppband ab. Als sie die Fahrbahn überquerte, setzte sich auch der Hund wieder in Bewegung und schloss schnell zu ihr auf. »Was willst du? Hast du kein Zuhause? Geh.« Doch der Hund schaute sie nur mit schiefgelegtem Kopf an und blieb an ihrer Seite.

Noch bevor Kati den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, öffnete sich die Tür, und ein hochaufgeschossener junger Mann trat heraus. Als er die Küsterin sah, lächelte er und hielt ihr die Tür auf.

»Guten Morgen Frau Küppers. Oh.« Sein Blick fiel auf den Hund. »Sie werden verfolgt.«

»Gut erkannt, Herr Rommerskirchen«, entgegnete Kati. »Sie könnten doch bestimmt den Hund freundlicher –«

»Stopp! Stopp! Stopp!« Der junge Mann hob abwehrend die Hände. »Sie wissen doch, was man macht, wenn man etwas verliert? Das sollten Sie auch tun, wenn Sie etwas finden oder Ihnen etwas zuläuft.«

»Zum heiligen Antonius beten?« Kati zuckte die Schultern. »Bei zugelaufenen Tieren hätte ich jetzt eher Franz von Assisi bemüht.«

Rommerskirchen lachte. »Frau Küppers, Sie sind wunderbar! Ich sprach vom Fundbüro. Dort sollten Sie sich melden. Die sind nämlich für alles zuständig, was abhandenkommen kann.«

»Wirklich?« Kati betrachtete den kleinen Vierbeiner, der ihr Gespräch interessiert zu verfolgen schien. »Das ist ein Hund. Und kein vergessener Regenschirm.«

»Für die Zuständigkeit ist das unerheblich«, erwiderte Rommerskirchen. »Sie können das Vieh auch im Tierheim abgeben. Dann machen die Meldung ans Fundbüro.«

Die abfällige Art, mit der der Nachbar über den anhänglichen kleinen Kerl neben ihr sprach, ärgerte Kati. War ihr das Tier eben noch lästig, so hatte es jetzt in Kati eine entschlossene Verbündete gefunden.

Rommerskirchen trat einen Schritt zur Seite und musterte den Terrier, danach Kati. Schließlich reckte er den Kopf, als ob er durchs Treppenhaus bis zu seiner Wohnung im Dachgeschoss schauen wollte. Dann beugte er sich zu Kati vor und raunte: »Hauptsache Sie lassen den Köter verschwinden, bevor Rike ihn entdeckt.«

Auf Katis Stirn bildete sich eine steile Falte. Es war ihr egal, welche Geheimnisse der Kommissar verbergen wollte, doch ehe sie etwas erwidern konnte, legte Rommerskirchen nach:

»Laut Mietvertrag sind Haustiere untersagt. Das habe ich drei Mal nachgeprüft, bevor ich unterschrieben habe.«

Kati hob die Augenbrauen. So hatte sie Philip Rommerskirchen bisher nicht gekannt. Seinem beherzten Eingreifen verdankte sie ihr Leben, und jetzt fürchtete sich der Kriminalkommissar vor einem kleinen Hund? Natürlich kannte man sich nicht gut, nur weil man seit einem halben Jahr im gleichen Haus wohnte. Wenn das schöne Wetter anhielt, könnte Jo den Grill anschmeißen. Bei einem kühlen Bier erfuhren sie dann vielleicht die Hintergründe der Hundephobie. Oder mochte seine Freundin keine Tiere?

Kati zog die Mundwinkel nach unten. »Er ist mir an der Kirche zugelaufen und war halb verdurstet. Jetzt weicht er nicht mehr von meiner Seite. Aber ich hab’s kapiert. Ich werde mit dem Tier nicht zu Ihnen auf die Polizeiwache kommen.«

Die Einladung zum Grillen musste sie sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

»Schönen Tag noch«, hörte sie Rommerskirchen wünschen, dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Kapitel 2

»Mama!« Natalie Hamacher verdrehte die Augen und lehnte sich gegen den Seziertisch. Sie hasste es, wenn ihre Mutter auf der Arbeit anrief. Auch dieses Mal hätten sie das Gespräch nach Feierabend führen können. Die Bedeutung von Feierabend kannte ihre Mutter natürlich nicht. Hedwig Hamacher war rund um die Uhr beschäftigt.

»Ich habe ja nur gefragt«, hörte Natalie sie jetzt sagen und wusste, dass sie dabei eine Schnute zog. Tat sie das eigentlich nur bei ihr? In Gesellschaft hatte sie das noch nie beobachtet.

»Darüber haben wir schon so oft gesprochen.«

»Hätte ja sein können, dass du es dir anders überlegt hast.«

»Habe ich aber nicht. Und ich wüsste auch nicht, warum.« »Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt

Natalie atmete tief durch. Blöd, wenn ihre Mutter auch noch recht hatte.

»Warum vermietet ihr das Häuschen nicht einfach?«

»Vermieten? An wen? Wer will denn ein kleines Häuschen im Garten? Und das auch noch in Niederbroich?«

»Du bist doch diejenige, die mir immer erzählt, was das Dorf alles zu bieten hat.«

»Aber doch nicht für Touristen.«

»Wieso nicht? Nordrhein-Westfalen wird gerade von den Touris entdeckt. Und von Niederbroich aus kann man sogar Tagesausflüge zu mehreren Städten machen, wenn man nicht gerade die Ruhe auf dem Land sucht.«

»Du meinst das ernst.«

»Ja, todernst.«

»Natalie!«

»Entschuldige, Mama. Aber so sagt man nun mal. Und es hat rein gar nichts mit meiner Vorliebe zu tun, an Toten herumzuschnippeln.«

Ihre Mutter war so stolz gewesen, als sie ihr Medizinstudium geschafft hatte. Jetzt lag auch die Facharztausbildung hinter ihr. Dass sie sich aber täglich mit Toten beschäftigte, fand ihre Mutter schrecklich. Noch schrecklicher als die Tatsache, dass Natalie nicht ins Gartenhäuschen ziehen wollte. Vor Nachbarn und Freunden hätte sie das natürlich nie zugegeben. Da wurde Natalie nur noch »Frau Professor Boerne« genannt. Ein weiterer Grund, nicht auf Dauer nach Niederbroich zurückzukehren. Dabei liebte sie das Dorf und seine Bewohner. Sie liebte es, beim Bäcker samstags Brötchen zu holen und mit Frau Bongarz zu frotzeln. Sie liebte die Karnevalsveranstaltungen der Katholischen Frauen Deutschlands, kurz kfd, über deren Kreativität sie jedes Jahr staunte, und keine Sitzung verpasste. Sie liebte es, unter der Birke im Garten zu sitzen, den Rücken an den Stamm gelehnt, und zu wissen, dass alles im Leben seinen Sinn hatte.

»Ich komme am Wochenende nach Hause und schreibe euch eine Miet-Anzeige fürs Internet. Wie wäre das?«

»Erst mal muss ich mit Papi darüber reden. Das kann ich ja nicht über seinen Kopf hinweg entscheiden.«

Natalie verkniff sich ein Lachen. Wenn ihre Mutter von einer Idee überzeugt war, verstand sie es, diese anderen so unterzuschieben, dass sie dachten, es wäre ihre eigene gewesen. Diese Fähigkeit hatte Natalie von ihr geerbt. Und sie schien die Einzige zu sein, die die Taktik ihrer Mutter nicht nur erkannte, sondern ebenso effektiv einzusetzen wusste.

»Machst du Kohlrouladen?«

»Bei der Hitze?«

Natalie grinste. Sie würde am Wochenende nach Nieder­broich fahren, schöne Fotos vom Häuschen im Garten machen und Kohlrouladen essen.

»Ich muss jetzt weiterarbeiten. Tschüss, Mama. Grüß Papi.«

Sie drückte den roten Knopf und beendete damit das Gespräch, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte.

Kapitel 3

Die Hitze hing in den Büroräumen fest und machte konzentriertes Arbeiten unmöglich. Die Mappe mit dem aktuellen Vorgang diente Rommerskirchen nur zum Luftfächeln. Das Hemd klebte ihm am Rücken. Er zog das Handy aus der Brusttasche und checkte die Uhrzeit. Noch gut zwei Stunden, bevor Rike Feierabend machte. Wie gut, dass sie heute Morgen schon im Büro gesessen hatte, als ihm Frau Küppers mit dem Hund über den Weg gelaufen war. Sicherlich hatte die Nachbarin den Kläffer mittlerweile seinem rechtmäßigen Besitzer übergeben.

Rommerskirchen stellte den Aktenordner zurück in den Schrank. Lästigen Papierkram konnte er auch bei Regen erledigen. Der käme sowieso früher, als ihm lieb war. Er informierte den Kollegen Tietke über seinen vorzeitigen Dienstschluss und verließ das Büro.

Nur ein paar Straßen weiter hatte er vor ein paar Tagen einen Zweirad-Laden entdeckt. Im Vorbeifahren konnte man die ausgestellten Motorräder natürlich nicht gebührend in Augenschein nehmen. Das musste er jetzt unbedingt nachholen. Und wenn er heute das passende Bike fände, würde er mit Rike zur Feier des Tages essen gehen.

Er betrat den Laden, in dem es angenehm kühl war und nach Leder und Chrompflegemittel roch. Auf einem schwarzen Podest direkt am Eingang funkelte eine dicke Harley. Der Zugang war durch ein rotes Tau verwehrt, das an blankpolierten Metallpfosten baumelte.

»Ein schönes Stück. Interessiert?«

Rommerskirchen drehte sich um und stand einem schmächtigen Typ gegenüber, der noch als Student durchgehen mochte. Sein wilder Haarschopf hätte Rommerskirchen nicht einmal unter der Achsel gekitzelt, wenn er unter seinem ausgestreckten Arm hindurchgegangen wäre. Über der schwarzen Lederhose trug er ein verwaschenes T-Shirt mit einer Aufschrift, die sich nicht mehr entziffern ließ. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, die dafür zu eng waren, und seine Beine erweckten den Eindruck, dass das Pferd, das er zu reiten schien, die falsche Größe hatte. Rommerskirchen schüttelte den Kopf.

Er dachte an sein letztes Zusammentreffen mit den Hells Angels und rieb sich in schmerzhafter Erinnerung das Kinn. Eine Harley, für viele der Inbegriff von Freiheit und Abenteuer, roch für ihn mittlerweile nach Unterdrückung und Erpressung. Doch davon hatte der Windbeutel neben ihm nicht die leiseste Ahnung und Rommerskirchen nicht die geringste Lust, ihn aufzuklären. Er zuckte die Schultern.

»Nicht mein Style.«

Der Schmächtling runzelte die Stirn und musterte den Kommissar von oben bis unten. Rommerskirchen konnte es hinter seiner Stirn knirschen hören beim Versuch, die passende Schublade für ihn zu finden. Natürlich war das Teil seines Jobs. Jedem Kunden das passende Bike. Aber Rommers­kirchen hatte es schon in der Schule gehasst, taxiert und beurteilt zu­ werden.

»Ich schau mich einfach mal um.« Er ließ den Verkäufer stehen und steuerte auf die BMW-Maschinen zu, die in der Mitte des Raumes standen. Beim ersten Blick auf die Preisschilder war ihm allerdings klar, dass er finanziell in einer anderen Liga spielte. Seit er das teure Apartment in Köln gegen die Dachgeschosswohnung in Niederbroich getauscht hatte, legte er zwar jeden Monat die Ersparnis für sein Bike zur Seite, für eine BMW reichte es aber noch nicht. Irgendwie musste er als Stadtkind sich ja den Umzug aufs Land versüßen. Provinziell war er nur bei Anschaffungen. Er sparte, bis er sich leisten konnte, was er wollte. Niemals hätte er ein Auto auf Pump gekauft, von einem Motorrad ganz zu schweigen. Leasingverträge waren für ihn ein absolutes No-Go. Wer konnte von Abenteuer und Freiheit träumen und sich gleichzeitig beide Füße durch einen Leasingvertrag in Beton gießen lassen?

Rommerskirchen schlenderte zu den Suzukis. Fürs Erste ginge so etwas auch. Und wenn er das Geld zusammen hatte, konnte er immer noch auf die Marke seiner Wahl umsteigen.

»Sie suchen was Besonderes, stimmt’s?« Der Gernegroß hatte sich herangepirscht und witterte Beute. »So’n Custombike wär doch was für ’nen Nonkonformen wie Sie, stimmt’s?«

Während sich Rommerskirchen noch wunderte, welchen Sprachschatz der Spargeltarzan an den Tag legte, hielt dieser ihm einen Zettel mit einer Adresse unter die Nase.

»Ich kenne da jemanden, der genau das Richtige für Sie hat.«

Rommerskirchen lächelte und biss die Zähne aufeinander. Außer in Schubladen gesteckt zu werden, konnte er es partout nicht ausstehen, wenn andere wussten, was das Richtige für ihn war. Schlimm genug, wenn seine Mutter damit um die Ecke kam. Auch wenn sie mitunter Recht behielt. Er hatte genug von diesem Fuzzi, von diesem Shop, von diesen Preisen. Rommerskirchen griff nach dem Zettel.

»Danke«, sagte er und verließ schnurstracks den Laden.

Kurz darauf saß er in seinem Auto und fuhr über die Landstraße. Er hatte die Adresse ins Navi eintippen müssen und war sich sicher, dass er diese Ecke von Niederbroich bisher noch nicht kannte. Vielleicht sollte er doch erst nach Hause fahren, unter die Dusche springen und die Angebote im Internet checken?

Direkt hinter dem Ortseingangsschild von Niederbroich wies ihn Gundula, die Stimme aus dem Navi, an, in zweihundert Metern links abzubiegen. Rommerskirchen hatte seine Routeninstrukteuse so genannt, weil sie ihn an die sanfte Art einer Nachrichtensprecherin mit demselben Vornamen erinnerte. Beide Gundulas hätten jedes Deeskalationstraining mit Bravour bestanden. Er setzte den Blinker und folgte ihrer Anweisung.

Nur ein paar Meter weiter wurde die Straße zu einem holprigen Feldweg. Auf den Spargelfeldern sprossen grüne Federbüsche. Der Kommissar ging vom Gas, zockelte an einer Pferdekoppel vorbei und runzelte die Stirn. War er hier noch richtig? In der Ferne tauchte ein Gehöft auf, und als er schließlich vor der Zufahrt hielt, verkündete Gundula überzeugt: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Langsam ließ Rommerskirchen den Wagen auf den Hof rollen. Eine Gans schnatterte ihm lauthals ihren Protest entgegen. Zu seiner Linken wartete unter einem Vordach ein stattlicher Fuhrpark landwirtschaftlicher Maschinen auf ihren Einsatz. Er parkte auf der anderen Seite des Hofes direkt neben einem Bretterverschlag. Vielleicht war dort die Motorrad-Werkstatt untergebracht. Beim Näherkommen entdeckte er statt Chrom und Krads kolossale Stallhasen. Sie füllten ihre Strohquader fast komplett aus. Was blieb den Viechern auch außer Fressen und Schlafen? Irgendwo hinter dem Stall schnatterten weitere Gänse. Dann dröhnten Hammerschläge auf Metall über den Hof. Neugierig folgte Rommerskirchen dem Geräusch und entdeckte zwischen Karnickelstall und Wohnhaus eine Scheune, deren Tor weit offen stand. Im diffusen Dunkel machte er zwei Gestalten aus. Die eine beugte sich über ein Mofa und bearbeitete es an verschiedenen Stellen mit dem Hammer. Das hatte das Geräusch verursacht, das den Kommissar auf die Spur gebracht hatte. Die andere Gestalt war klein und untersetzt, stemmte die Hände in die Seiten und weckte in Rommerskirchen unangenehme Erinnerungen. Was um alles in der Welt, hatte sein Nachbar aus der ersten Etage hier verloren? Der hatte ihm gestern im Treppenhaus aufgelauert, um ihn davon zu überzeugen, dass er umgehend gegen das Baugerüst vorm Haus einschreiten müsse, damit die Sicherheit des Mietshauses gewahrt bliebe. Rommerskirchen hatte die Nacht durchgearbeitet und nur noch ins Bett gewollt. Ein wirklich schlechter Zeitpunkt, ihn um einen Gefallen zu bitten. Zumal klar war, dass es Walter Heinrich nicht um die Sicherheit vor einem Einbruch ging, sondern um Wiederherstellung seines Ausblicks auf die Straße. Auf ein erneutes Zusammentreffen mit Walter Heinrich war Rommerskirchen nicht erpicht, doch gerade als er kehrtmachen wollte, rief ihn die Gestalt mit dem Hammer an. »Kann ich helfen?«

»Das muss ich noch herausfinden«, rief Rommerskirchen zurück und schlenderte auf die Scheune zu.

»Oha, der Kommissar höchstpersönlisch. Manni, nix för unjut. Isch muss.« Walter Heinrich tippte sich an die Stirn und schob das Mofa aus der Scheune. Offensichtlich sehnte auch er sich nicht nach einem Plausch unter Nachbarn.

»Klo ist hinterm Stall«, rief ihm der andere nach. Der Alte drehte sich noch einmal um und zuckte mit den Schultern. »Wenn du musst, meine ich.« Der Bastler wischte sich die Hände an einem Lappen ab, der nicht mehr viel von seiner ursprünglichen Farbe erkennen ließ. »Der Anhänger steht im Fuhrpark. Brauchste Hilfe?« Heinrich winkte ab und überquerte den Hof.

»Was führt Sie zu mir? Bin ich zu schnell gefahren? Oder ist Klaus was passiert?«

Rommerskirchen hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut. Ich bin privat hier.« Wer Klaus war, wollte er gar nicht wissen. Er kramte in seiner Hosentasche nach dem Zettel. »Jemand hat gemeint, Sie hätten genau das richtige Bike für mich.«

Der Mechaniker legte den Lappen aus der Hand und betrachtete den Zettel. Er hatte gerade zu einer Erwiderung angesetzt, als es am anderen Ende des Hofes unter dem Vordach mächtig schepperte.

»Misch is nix passeet. Alles in Ochtnung«, rief Walter Heinrich ihnen zu. Er hatte einen Anhänger an sein Mofa gehängt und mit diesem ein Regal umgerissen. Der Inhalt lag auf dem Boden verstreut. Heinrich ließ ihn liegen, setzte sich auf sein Mofa und trat den Kickstarter.

»Ich wusste gar nicht, dass er einen Führerschein für so ein Gefährt hat.« Rommerskirchen kratzte sich am Hinterkopf.

»Das ist die Gnade der frühen Geburt«, erklärte der Mechaniker und lächelte. »Wer vor 1965 geboren ist, braucht zum Fahren eines Mofas keinen Führerschein. Nicht mal eine Prüfbescheinigung. Das weiß die Polizei doch sicher.«

Rommerskirchen grinste verlegen. »Die von der Streife wissen das garantiert. Die wissen sogar, dass die Helmpflicht auch beim Führen eines Mofas gilt. Der will doch nicht etwa – «

»Alles gut«, beschwichtigte ihn der Tüftler. »Ich dachte, Sie sind privat hier.«

Kapitel 4

Acht Tage später überquerte Kati den Marktplatz von Siegburg. Nur anderthalb Stunden hatte die Bahn gebraucht, um sie von Niederbroich hierher zu bringen. Der Geruch von Käse und Fisch am frühen Morgen machte ihrem Magen zu schaffen. Vielleicht auch der Rotwein, den sie sich gestern Abend mit Jo zur Entspannung gegönnt hatte. Gewirkt hatte er nicht. Seit mehr als einer Woche suchten sie jetzt nach dem Besitzer des Jack Russell Terriers. Anfangs hatte Kati noch geglaubt, den kleinen Kerl am Nachmittag seinem Herrchen übergeben zu können. Stattdessen hatte sie das Herz ihres Gatten verloren. Ein Hundeblick hatte ausgereicht.

Natürlich wusste Kati, dass Jo Hunde mochte, aber die Beziehung der beiden war schon eine spezielle. Schnell hatte Jo die Marke am Halsband entdeckt. Jetzt wussten sie, dass der Terrier Filou hieß und bei Tasso registriert war, einer Organisation, die verschwundene Tiere und ihre Besitzer wieder zusammenbrachte. Doch Filous Besitzer hatte sich weder bei der Organisation gemeldet, noch war er unter der Handynummer erreichbar, die sie auf der Rückseite von Filous Marke gefunden hatten.

Jo schien das nicht zu kümmern. Er hatte den Terrier mit einem Wiener Würstchen bestochen, ihn unter den Arm geklemmt und im Badezimmer in die Wanne gesteckt, was wohl beiden größtes Vergnügen bereitet hatte. Seitdem heftete sich Filou an Jos Fersen, ging mit ihm Gassi und lag im Übrigen zu seinen Füßen. Beim Essen unterm Küchentisch, beim Zeitunglesen vor dem Sofa, sogar unter dem Schreibtisch im Gästezimmer, wenn Jo dort Papierkram erledigte und Rechnungen für die Steuer sortierte. Merkwürdigerweise machte er einen großen Bogen um Bene, der momentan das Zimmer in Beschlag nahm, sobald er aus der Schule kam. Aber auch Bene schien kein Interesse daran zu haben, Kontakt zu dem Hund aufzubauen. Stattdessen verschanzte er sich im Gästezimmer, wo er wohnte, solange die neue Wohnung in Niederbroich für ihn und seine Mutter renoviert wurde und die Küche nicht geliefert worden war. Er gab vor, für die Schule zu arbeiten, oder traf sich mit Freunden. Kati hätte gerne gewusst, mit wem und wo Bene seine Zeit verbrachte, aber noch war sie beherrscht genug, darauf zu warten, dass er es ihr von sich aus erzählte. Sie hätte nicht gedacht, dass sich das freundschaftliche Ferien-Enkel-Verhältnis so schnell veränderte. Vielleicht lag es aber auch nur am Alter, in dem man seine Zeit eben lieber mit Gleichaltrigen verbrachte. Oder daran, dass Kati sich weniger gebraucht fühlte. Jedenfalls bot ihr die Einladung ihrer alten Schulfreundin Biggi eine willkommene Abwechslung.

Obwohl es erst Mai war, präsentierte sich der Sommer auf dem Markt bereits in allen Nuancen. Am Obststand leuchteten die Früchte in Rot, Blau und Gelb. Es duftete süß nach Erdbeeren und frisch gepresstem Orangensaft. Am Blumenstand direkt gegenüber reckten Rittersporn und Ehrenpreis ihre schlanken Blütenkerzen in die Höhe. Daneben schämten sich Frauenmantel, Kamille und Schleierkraut für ihre Schlichtheit. In kleinen Wassereimern drängten sich apricotfarbene Gerbera neben kurzstieligen Bauernrosen und bunten Bartnelken. Über ihnen leuchteten goldgelb die Sonnenblumen und stellten alle anderen Gewächse in den Schatten.

Kati blieb stehen und überlegte. Dann verwarf sie die Idee, einen Strauß Blumen zu kaufen. Wenn sie mit Biggi durch die Gässchen von Siegburg bummeln wollte, störten Blumen nur. Außerdem hätte Biggi die Geste falsch verstehen können. Als Schuldeingeständnis. Oder Wiedergutmachung. Ein Eindruck, den Kati um jeden Preis vermeiden wollte.

Nur ein paar Schritte weiter entdeckte sie das Café, das ihre Freundin vorgeschlagen hatte. Biggi entdeckte sie hingegen nicht.

Vom Turm hinter ihr spielte das Glockenspiel »Suse, liebe Suse«. Dann schlug die Glocke zehn Mal. Pünktlicher ging nicht.

Junge Bäume in Kübeln dienten als Begrenzung der Café­terrasse. Ihre lichten Laubkronen warfen hübsche Schattenmuster auf die Tische. Kati setzte sich an einen freien Tisch unter einem Schirm und genoss den Wind. Mit Wind hatte das Café wohl immer wieder zu kämpfen, denn Pflastersteine hielten die laminierten Speisekarten und die aktuellen Empfehlungen auf den Tischen fest. Vom Nachbartisch wehte die nächste Böe den Geruch von frischem Kaffee herüber. Noch bevor Kati einen Blick in die Karte geworfen hatte, stand die Bedienung vor ihr. »Was darf ich Ihnen bringen?« Sie hielt ­einen Apparat in der Hand, um die Bestellung sofort digital an die Küche weiterzuleiten. Auf ihrem schwarzen T-Shirt leuchtete in pinker Schrift der Name Ingrid und auf der schwarzen Schürze, die ihr von der Taille bis zu den Knöcheln reichte, der Name des Cafés.

»Ich warte noch auf meine Freundin«, antwortete Kati und griff nach der Karte.

Was, wenn Biggi nicht kam? Wenn sie nach dem letzten Zank Kati nur hierher bestellt hatte, um sie zu versetzen? Biggi wusste genau, wie sehr Kati es hasste, warten zu müssen. Erneut glitt Katis Blick über die Karte, ohne auch nur ein Angebot gelesen zu haben. Was traute sie Biggi eigentlich zu? Sie war ihre älteste Freundin, die beste noch dazu.

Wenn sie noch sauer auf Kati war, würde sie andere Wege finden, sie das spüren zu lassen.

Eine junge Bedienung steuerte auf Katis Tisch zu. Ebenso wie ihre Kollegin war sie komplett schwarz gekleidet. Selbst die Haarfarbe schien sie der Arbeitskleidung angepasst zu haben, was nicht recht zu ihrer blassen Haut passte. Auf einem großen Tablett balancierte sie einen Korb mit Butterhörnchen und duftenden Brötchen, eine Platte mit Käse, eine mit Aufschnitt und zwei Kaffeetassen.

»War hier das Landei?«, fragte sie und schob den Pflasterstein aus der Tischmitte an den Rand. »Na, hören Sie mal!« Kati schnappte nach Luft. Nur weil sie aus Niederbroich kam, hatte niemand das Recht, sie als Landei zu bezeichnen.

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