Kati Küppers
und der gefallene Kaplan

Der Mensch sieht, was vor den Augen ist,
der HERR aber sieht das Herz.

Samuel 16,7b

Prolog

Seine Knie zitterten, ebenso die Hände. Vor seinen Augen verschwamm das Türschloss, egal wie stark er dagegen anblinzelte. Die Zunge zwischen die Lippen geschoben, gelang es ihm endlich unter größter Anstrengung, den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Dabei stützte er sich mit der Schulter am Türrahmen ab. Als er den Schlüssel umdrehte, sprang die Tür auf und schlug krachend gegen die Wand. Der Lärm explodierte in seinem Kopf.

Kalt und dunkel lag der Raum vor ihm. Für einen Moment entspannte sich sein Körper, dann schüttelten ihn neue Krämpfe. Er stützte sich auf die nächste Holzbank. So schlimm war es noch nie. Er brauchte es jetzt!

Das Verlangen nach Erlösung zwang ihn vorwärts. Neue Kraft. Ende des Schmerzes. Bald! Es zerfetzte ihn innerlich. Er schnappte nach Luft. Weiter!

Matter Glanz leuchtete aus der offenstehenden Kellerluke und verhieß ihm das Ende seiner Qualen. Meter für Meter kämpfte er sich vorwärts.

Endlich! Die Treppe zum Keller.

»Christopher?«, presste er hervor. Keine Antwort.

Bestimmt war er dort unten.

Erstaunt riss er die Augen auf. Die Erkenntnis traf ihn plötzlich, hüllte ihn ein. Ein letzter mühsamer Atemzug, sein auslaufender Herzschlag, sein Körper im Flug, schwebend, frei, unaufhaltsam, abwärts. Die Treppe tanzte hin und her, drehte sich in endlosen Kreisen, löste sich auf. Dann war es dunkel.

Kapitel 1

Die ersten Lichtstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Vorhänge, als er missmutig blinzelte und sich die heruntergerutschte Decke bis unters Kinn zog. Ein unangenehmer Druck auf beiden Schläfen hinderte ihn am Weiterträumen. Er drehte sich auf die andere Seite. Heute Morgen hatte er keine Termine. Warum sollte er aufstehen?

Als das Telefon klingelte, gähnte er laut und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Am anderen Ende meldete sich die Küsterin und teilte ihm mit, dass Pater Remigius an einer Halsentzündung leide und kaum einen Ton herausbekäme. Er schaute auf die Uhr. Bis zur Messe blieben ihm vierzig Minuten. Knapp, aber zu schaffen. Im Grunde kam ihm diese unverhoffte Aufgabe gelegen. Zur Frauenmesse in der Kapelle kamen die treuesten Schäfchen der Gemeinde, und wenn er Glück hatte, war Frau Wilms unter ihnen. Letzte Woche hatte er mitbekommen, wie die alte Frau den Pfarrer um Arbeit angefleht hatte. Seitdem spielte Markus Overath mit dem Gedanken, ihre Dienste selbst in Anspruch zu nehmen. Zum einen, weil er sich mehr um die Jugend kümmern wollte. Obwohl man es aufgrund seiner Leibesfülle nicht vermutet hätte, lag dem jungen Mann mehr am Fußballspielen als am Putzen und Bügeln.

Zum anderen war Cilli Wilms für die leckersten Eintöpfe und besten Kuchen der Gemeinde bekannt. Und nur weil Pater Remigius keine Haushälterin in seinem Refugium duldete, musste er als Kaplan noch lange nicht auf alle Annehmlichkeiten verzichten.

Er schlurfte ins Badezimmer, strich in Gedanken das Frühstück und stellte sich unter die Dusche. Mit tropfnassen Haaren und einem Handtuch um die ausladenden Hüften betrat er zehn Minuten später die Küche. Er stellte den Wasserkocher an, füllte drei Löffel fair gehandelten Instant-Kaffee in eine Tasse, kippte das kochende Wasser darauf und rührte drei Teelöffel Zucker hinein. Im Schlafzimmer schlüpfte er in die am gestrigen Abend bereitgelegte Kleidung, die wie immer aus einem schwarzen Oberhemd mit Stehkragen und einer schwarzen Anzughose bestand. Das zugehörige Sakko wartete an der Garderobe im Flur auf seinen Einsatz. Der Geistliche setzte sich auf das ungemachte Bett und zog das letzte Paar schwarze Socken an, das er in der Schublade finden konnte.

Dann eilte er zurück ins Bad. Mit dem Elektrorasierer fuhr er sich nachlässig über das stoppelige Kinn, föhnte seine fast schulterlangen Locken und kämmte das braune Haar mit Gel nach hinten. Einmal mehr betrachtete er sich im Spiegel und bedauerte, dass er nicht blond war. Er hätte es ansonsten durchaus mit dem Erzengel Gabriel in seinem Heiligenbuch aus Kinderzeiten aufnehmen können. Kaplan Overath seufzte, ging in die Küche, schüttete einen großen Schluck Milch in den abgekühlten Kaffee und kippte den Wachmacher hinunter. Doch der Druck zwischen den Schläfen blieb. Er griff nach seinem Sakko, steckte Handy, Schlüssel und Portemonnaie ein und schlüpfte in die schwarzen Lackschuhe, die er als Kommunionkind so gerne getragen hätte, sich aber erst als Priesteranwärter leisten konnte.

Seitdem ihn der Weihbischof förderte, konnte er sich auch einen Golf gönnen. Schwarz glänzte er mit seinen Schuhen um die Wette und brachte ihm die Bewunderung nicht nur der männlichen Messdiener ein. Jetzt half ihm der fahrbare Untersatz, rechtzeitig zur Kapelle am anderen Ende des Dorfes zu kommen.

Als er die Tür der Sakristei aufriss, zuckte die Küsterin sichtbar zusammen.

»Ah, Frau Küppers, guten Morgen.« Der Kaplan stürmte auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.

»Guten Morgen, Herr Kaplan. Gut, dass Sie einspringen konnten.«

Der Priester grinste zufrieden und ließ seinen Blick über die Gewänder gleiten, die die Küsterin schon bereitgelegt hatte. Mitten auf dem weißen Untergewand, das zuoberst lag, prangte ein Riesenfleck. Gelbgrau mit einem bläulichen Heiligenschein außen herum. Sein Lächeln erstarb. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. Wie konnte man nur so nachlässig seine Arbeit erledigen? Scharf zog er die Luft ein und versuchte, seiner Stimme einen barmherzigen Klang zu verleihen.

»Das ist aber unschön. Haben Sie das nicht gesehen?«

Die Küsterin zog die Augenbrauen hoch und schaute sich suchend um.

»Was meinen Sie?«

Kaplan Overath schüttelte ungläubig den Kopf und deutete auf das Untergewand.

»Den Fleck. Mittendrauf. Sie brauchen dringend eine Brille, Frau Küppers, wenn Sie das nicht sehen.«

Mit Genugtuung sah der Geistliche, wie die Küsterin die Schultern hängen ließ. Sie schien ihren Job wohl doch ernst zu nehmen. Hoffentlich kontaktierte sie noch heute ihren Augenarzt, um ihrer Fehlsichtigkeit Abhilfe zu verschaffen. Er schnaufte und glaubte, seiner Autorität damit mehr Gewicht zu verleihen. In seinen Schläfen pochte es immer noch. Irgendwer drehte den Schraubstock um seinen Kopf langsam enger.

»Alles okay, Herr Kaplan?«, hörte er die Küsterin neben sich. Sie belauert mich, schoss es ihm durch den Kopf, und wartet nur darauf, dass ich etwas falsch mache … Er wandte sich ab. Ohne eine Erwiderung durchsuchte er die Taschen seines Jackets. Irgendwo ein Aspirin? Oder lieber noch … Nein, er wusste es besser. Er hatte nichts mehr. Muss Christopher gleich anrufen, beschloss er still. In der Innentasche fand er schließlich ein einsames Pfefferminzbonbon, schob es in den Mund und hängte sein Sakko an den Kleiderhaken. Direkt daneben auf der weißen Wand entdeckte er einen Fleck, gelbgrau mit einem bläulichen Heiligenschein außen herum. Wie auf dem Untergewand. Er schloss die Augen. Der Fleck blieb. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und atmete tief durch.

»Es ist alles vorbereitet«, verkündete Kati Küppers das Offensichtliche. Sie teilte mit ihm die Vorliebe für schwarze Oberteile. So war man immer richtig angezogen, ob Taufe oder Beerdigung. Und schlank machte es auch noch, was sie im Gegensatz zu Kaplan Overath nicht nötig hatte. Allerdings peppte Kati ihre Garderobe mit langen, dicken Ketten, Schals in leuchtenden Farben und großen, extravaganten Ohrringen auf. Zu ihrem pfiffigen Kurzhaarschnitt in Grauweiß passte einfach alles. Und die farbige Ponysträhne, die sie gerne hinters linke Ohr steckte, wechselte den Farbton passend zum Nagellack.

Sie öffnete den Schrank mit den Priestergewändern.

»Ich suche Ihnen ein anderes Untergewand raus. Vielleicht hat das keinen Fleck.«

»Schon gut.« Kaplan Overath winkte ab. »Nicht nötig.« Wieder fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. »Sie übernehmen Lesung und Fürbitten, Frau Küppers?«

»Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Mit Pater Remigius hatte ich bereits vereinbart, dass ich nicht zur Messe bleibe. Es ist noch einiges vorzubereiten für das Taizé-Gebet und heute Nachmittag muss ich meinen Enkel von der Bahn abholen.«

Der Kaplan musterte die ältere Mitarbeiterin, die so oft jünger wirkte als er selbst, mit einem Blick, der sie dazu brachte, ihre Softshell-Jacke zu schließen und die Schultern hochzuziehen.

»Ja«, polterte er, »man muss Prioritäten setzen im Leben. Aber dass Sie den Segen der Messe so geringschätzen, hätte ich von Ihnen nicht erwartet.« Wenigstens einen Messdiener hätte sie ihm doch organisieren können.

Kati Küppers öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann schüttelte sie den Kopf, straffte den Rücken und wandte sich zum Gehen. Doch so billig kam sie ihm nicht davon.

»Ach, Frau Küppers, eh ich es vergesse. Ich brauche nächsten Dienstag das komplette Pfarrheim.«

Die Küsterin hielt kurz inne, dann wirbelte sie herum.

»Am Dienstag findet unser Jugendclub statt«, antwortete sie mit rauer Stimme.

»Ihr Jugendclub, Frau Küppers, nicht unser. Ihr Club. Ich habe für diesen Tag ein Messdiener-Training anberaumt. Das ist wichtiger.«

Katis Brust hob und senkte sich, während sie sich auf die Lippen biss.

»Halten Sie Ihr Trainingslager nicht in der Kirche ab?«

Kaplan Overath lächelte dünn. Er war der Hausherr und niemandem Rechenschaft schuldig. Sein Kopf dröhnte, als hätte er einen Bienenstock gefrühstückt. Dennoch würde er der Küsterin erklären, was erforderlich war und was nicht.

»Die Kirche brauchen wir auch. Doch darüber hinaus benötige ich jeden verfügbaren Raum.«

»Sie scheinen ja Großes vorzuhaben. Der Termin für den Jugendclub steht seit zwei Monaten fest, aber wir könnten ihn vielleicht eine Stunde nach hinten verschieben.«

»Wir üben von fünf bis acht«, fiel er ihr ins Wort. Dabei wischte er mit dem Arm durch die Luft, als ob er einen Schlussstrich unter die Diskussion setzen wollte. »Und danach lade ich alle zum Pizzaessen ein.«

»Was ist mit den Messdienern, die zum Jugendclub wollen?«

»Haben Sie mir eben nicht zugehört? Wie ich schon sagte, man muss immer wieder Prioritäten setzen im Leben. Meine Prioritäten sind eindeutig. An erster Stelle kommen unsere Messdiener. Die sind mir nun einmal wichtiger als irgendwelche dahergelaufenen Heidenkinder.«

Die Küsterin vergrub ruckartig die Hände in den Jackentaschen. Deutlich spannten sich die Muskeln ihres Unterkiefers an.

»Bei Tobsucht und Raserei, heiliger Ulrich, steh mir bei«, flüsterte sie.

»Ich verstehe eh nicht«, fuhr unterdessen der Kaplan mit erhobener Stimme fort, »wieso Sie so viel Zeit und Engagement in dieses verrückte Projekt investieren. Dabei könnten Sie so viel Gutes tun. Uns fehlen doch an allen Ecken und Enden Mitarbeiter. Aber nein! Es muss eine Disco für die Dorfjugend sein. Letztendlich werfen Sie doch nur Perlen vor die Säue.«

»Was erlauben Sie sich eigentlich?«, schnauzte ihn die Küsterin an. Dem Kaplan war klar, dass sie sich nicht darum scherte, ob die Tür zur Kapelle offenstand. Jedes Wort würde man dort laut und deutlich hören. Aber es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass es ihr an Taktgefühl mangelte.

»Sie sind in dieser Gemeinde Kaplan, quasi noch in der Ausbildung, und spielen sich hier auf, als wären Sie der Erzbischof von Köln. Dieser Jugendclub führt junge Menschen zusammen, egal, ob Christen, Muslime oder Gar-nichts-Gläubige, und leistet einen wichtigen Beitrag zur Befriedung unseres Landes und in der Welt. Wenn man sich kennt, bringt man sich nicht gegenseitig um.«

Dem Geistlichen verschlug es kurzzeitig die Sprache. »Mir ist nicht bekannt«, stammelte er verwirrt, »dass Christen Muslime umbringen.«

Kati Küppers senkte die Stimme, in der ein scharfer, lauernder Unterton mitschwang.

»Herr Kaplan, hier geht es nicht um Korinthenkackerei. Hier geht es um Respekt und Vertrauen. Und bei allem Respekt, Ihren Satz mit den Perlen und den Säuen will ich in diesem Zusammenhang nie wieder hören. Sonst läuten es ganz schnell die Glocken vom Dom. Ich hoffe, Sie verstehen.«

Hatte sie ihn gerade Korinthenkacker genannt? Ihren eingebildeten Einfluss beim Erzbischof in die Waagschale geworfen? Bloß weil er ihr bei der letzten Audienz die Hand zum Kuss gereicht hatte? Sie hatte sich schon so manche Unverschämtheit herausgenommen und durfte sich jedes Mal der Rückendeckung von Pater Remigius sicher sein. Doch das war der Gipfel des für ihn Erträglichen. Kaplan Overath spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, wie es in den Ohren rauschte und seine Halsschlagader pochen ließ.

»Das ist eine offene Drohung!«, donnerte er los und schnappte nach Luft. »Frau Küppers! Eine unverfrorene! Bodenlose! Unverschämte! Drohung!«

Die Küsterin winkte ab und verließ ohne ein weiteres Wort die Sakristei.

»Wir sprechen uns noch!«, brüllte Kaplan Overath hinter ihr her und ballte die Fäuste. Das Gefühl unbändiger Wut war neu für ihn. Und leider nicht mit der Küsterin verschwunden. In dieser aufgewühlten Stimmung konnte er nicht an den Tisch des Herrn treten und die heilige Messe feiern. Er brauchte Nachschub. Dringend! Sein Blick jagte durch die Sakristei und blieb schließlich am Messwein hängen. Er griff nach der Flasche, die bereits angebrochen war, aber mehr beinhaltete, als er für die Feier der Messe brauchte. Er drehte den Verschluss ab, schluckte das noch nicht vollständig aufgelutschte Pfefferminzbonbon hinunter und setzte die Flasche an. Er konnte es noch. Den Alkohol direkt in die Kehle schütten. Nicht mit kleinen Schlückchen … Der Wein schmeckte abscheulich. Kam das durch das Pfefferminz? Bitter und süß zugleich. Er schüttelte sich. Die Flasche war erheblich leerer. Die beruhigende Wirkung, die er sich erhofft hatte, ließ auf sich warten. Dafür kämpfte der wütende Bienenschwarm in seinem Kopf gerade mit mindestens drei Bären. Er zog das Handy aus seinem Jackett, suchte die Toilette auf und wählte Christophers Nummer. Der erste Versuch ging fehl. Overath ließ sich auf dem Klodeckel nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. Wieder und wieder wählte er die Nummer des Freundes. Endlich meldete sich dieser.

»Hast du Nachschub für mich?«, raunte Markus Overath ohne eine Begrüßung ins Mobilteil. »Wir müssen uns sehen. Dringend!«

»Du hast Glück. Ich bin gerade bei dir um die Ecke und hab was bei mir. In einer Viertelstunde kann ich in Niederbroich sein.«

»Gut. Sehr gut.« Markus Overath atmete auf. Er schloss die Augen und lächelte. »Wir treffen uns in der Kirche.«

Christopher lachte. »Übergabe im Beichtstuhl? Wie im Film? Wie hieß der noch gleich?«

»Schon länger nicht mehr dein schwarzes Herz erleichtert, was?«, unterbrach ihn der Kaplan. »Die Beicht­stühle bei uns sind alle umgebaut worden. Gläserner als Facebook-User. Und um jeglichen Missbrauch zu unterbinden, soll der arme Sünder demnächst noch durch eine Glasscheibe vom Beichtvater getrennt werden.«

»Ist ja wie im Knast.«

Kaplan Overath brummte.

»Wir treffen uns im Kirchenkeller. Erinnerst du dich? Wo die Krippenfiguren lagern. Du hast mir letztes Jahr beim Abbau geholfen.«

»Alles klar. Bis später.«

Der Kaplan drückte das Gespräch weg, erhob sich und verspürte zum wilden Gebrumme in seinem Kopf einen stechenden Schmerz im Magen. Er schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht und atmete tief durch.

Als er in die Sakristei trat, stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn und das Atmen fiel ihm schwer. Er kehrte um, hockte sich auf die Toilette und hoffte, dass die aufsteigende Übelkeit bald vorbeiging. Vergebens. Schließlich rappelte er sich hoch, schleppte sich durch die Sakristei in die Kapelle, wo nicht einmal eine Handvoll Gottesdienstbesucher auf ihn wartete. Es war das erste Mal, dass er die Messe ausfallen ließ. Mit Bedauern sah er die alte Wilms in der letzten Bank sitzen. Das Problem musste warten.

Als er die Tür zur Kapelle abschloss, wurde ihm schwindelig. Er ließ sich auf den Stuhl neben dem Ankleidetisch plumpsen und vergrub den Kopf in den Händen. Nur einen Augenblick ausruhen, kurz durchschnaufen. Als es ihm besser ging, griff er nach seinem Sakko und schloss die Sakristei hinter sich zu.

Sicher wartet Christopher schon in der Kirche, dachte er, gleich hast du wieder alles unter Kontrolle. Kein Zittern. Kein Schwindel.

Die Gedanken des Kaplans wurden von einer heftigen Übelkeit unterbrochen, die sich wie eine Welle vom Magen den Hals hinaufarbeitete, um in der Kehle stecken zu bleiben. Der Geistliche hustete und hielt sich den Bauch. Der Wagen stand nur ein paar Schritte entfernt. Erleichtert ließ er sich auf den Fahrersitz fallen. Die Übelkeit ebbte ab. Seine Muskeln schmerzten.

Wenige Minuten später hatte er die Dorfkirche erreicht. Der Haupteingang war verschlossen. Dem jungen Priester zitterten die Knie. Der Kragen seines Hemdes war nass geschwitzt. Er kramte nach dem Schlüssel. Das Türschloss verschwamm vor seinen Augen, egal wieviel er blinzelte. Endlich sprang die Tür auf. Still und dunkel lag der Kirchenraum vor ihm. Der Geistliche stützte sich auf die Kirchenbänke, hielt sich den schmerzenden Magen und japste nach Luft. Er musste Christopher treffen!

Aus der offenstehenden Kellerluke schien ein matter Glanz in den dunklen Raum.

Kapitel 2

Benedikt saß im Zug und hatte die Stöpsel seines Smartphones in den Ohren. Omas neue Playlist war ihm gut gelungen. Die könnte sie beim nächsten Jugendclub verwenden. Er musste bis dahin nur endlich ihr neues Notebook aufgesetzt haben.

Während der Zug über die Rheinbrücke ratterte, betrachtete Benedikt die Schiffe, die hinter der nächsten Flussbiegung verschwanden, und wippte mit dem Kopf zum Takt der Musik. Er grinste vor sich hin und dachte an die mitleidigen Mienen seiner Schulkollegen, als sie hörten, dass er die Ferien bei seiner Oma auf dem Land verbringen würde. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Für ihn war Oma echt mega. Sie gurkte mit ihrem apfelsinenfarbenen Hollandrad durchs Dorf, stimmte im Sommer die Farbe ihrer Zehennägel auf ihr aktuelles Halstuch ab, färbte eine Strähne ihres Ponys auch schon mal lila, pflückte Holunder an den Dorfhecken und probierte neue Marmelade-Kreationen aus. Letztes Jahr war das Holunder-Chili-Gelee sein Favorit gewesen. Allerdings war Marmelade das Einzige, was Oma Kati wirklich hervorragend kochen konnte. Mittlerweile überließ sie die Küche lieber ganz Opa Jo. Und der verwendete Chili nicht nur für seine Spezial-Burger.

Benedikt wischte über sein Smartphone, um zu sehen, wie spät es war. Der nächste Halt war Köln-Hauptbahnhof. Dort musste er in die S-Bahn umsteigen, die alle 30 Minuten fuhr, um 8 und um 38. Wenn die Bahn keine wesentliche Verspätung hatte, wäre er wie geplant um drei Minuten vor halb vier am Bahnhof, wo Oma Kati ihn mit dem Auto abholen würde. Er hätte auch den Bus genommen, aber davon wollte Oma nichts hören.

»Viel zu umständlich«, hatte sie abgewunken. »Damit bist du ewig und drei Tage unterwegs. Und wohin mit deinem Gepäck?«

Das bestand hauptsächlich aus Smartphone, Notebook, Headset und Ladekabeln, die er mit ein paar Wäschestücken abgepolstert hatte. Jetzt griff er nach der Tasche, die zu Schulzeiten seine Sportsachen beherbergte, und verließ den Zug. Die S-Bahn stand schon auf dem Gleis gegenüber und wartete. Benedikt stieg in den gut gefüllten Wagen und blieb an der Tür stehen. Vorfreude kribbelte in seinem Magen, als die Bahn sich in Bewegung setzte. Zwei wundervolle Wochen ohne Schule, die darauf warteten, genutzt zu werden …

Das Laub der Bäume am Horizont leuchtete in Gold-, Rot- und Brauntönen. Davor endlose Felder wie braune und grüne Teppiche. Und mittendrin die Autobahn, ein Wurm aus Beton und Blech, der sich durch die Felder fraß. Die vorbeiziehende Landschaft wirkte behäbig und bildete einen eigenartigen Kontrast zur Musik der Rolling Stones, von der sich Benedikt beschallen ließ. Eine Vorliebe, die er mit seiner Großmutter teilte. Keiths Gitarren-Riffs begeisterten ihn immer wieder aufs Neue, während er mit den synthetischen Klängen aus der Dose, die seine Kumpels sich auf die Ohren hauten, nichts anfangen konnte.

Mit nicht nennenswerter Verspätung erreichte die S-Bahn den Bahnhof und schwemmte eine Handvoll Menschen auf den Bahnsteig, die sich nach und nach verliefen. Benedikt blieb allein zurück. Von Oma Kati keine Spur.

Kapitel 4

»Sie bleiben also dabei, dass Sie um kurz vor halb zehn die Sakristei verlassen und Markus Overath danach nicht mehr lebend gesehen haben?«

Kommissar Rommerskirchen hatte seine linke Pobacke auf dem Schreibtisch geparkt und betrachtete konzentriert sein Gegenüber. Mit hängenden Schultern saß Kati Küppers im Büro der Polizeiwache und nestelte am Reißverschluss ihrer Jacke. Der leichte Schal hatte sich im Ohrring verheddert, doch das schien sie nicht zu stören. Ihre Augenbrauen waren ordentlich gezupft und mit einem dunklen Stift nachgezogen. Die Wimpern waren blau getuscht und die Lippen glänzten, als hätte sie gerade in eine fettige Frikadelle gebissen. Sie schob die lila Haarsträhne hinters Ohr und hob den Kopf.

»Nee, gesehen hab ich ihn nicht mehr. Wie gesagt, nur gehört.«

Am Schreibtisch nebenan saß ein Polizeibeamter und tippte das Protokoll.

»Stopp«, warf er ein. Dabei sprach er das St wie in ›Post‹ und nicht wie üblich als Scht. »Gesehen, gesagt, gehört. Nee, ja. Wie jetzt? Was soll ich denn da notieren?«

Rommerskirchen warf dem Kollegen einen amüsierten Blick zu und erwiderte lässig: »Nee ist das rheinische Ja, Björn. Das hast du bald raus.« Dann wandte er sich erneut der Küsterin zu.

»Schildern Sie bitte noch einmal, was in der Kirche passiert ist.«

Kati Küppers starrte auf die Jeans des Kripobeamten mit den löchrigen und abgewetzten Stellen. Nie würde sie verstehen, warum junge Leute bereit waren, für kaputte Hosen horrende Preise zu bezahlen. Sie holte hörbar Luft.

»Also, ich bin ziemlich wütend auf mein Rad gestiegen und zur Kirche gefahren. Wenn Blitzmarathon gewesen wäre, hätten Sie mir bestimmt ein Knöllchen verpasst.«

Rommerskirchen hob die Hand und wandte sich an den Kollegen: »Schreib ›Auf direktem Wege‹.«

Kati hob irritiert den Kopf. »Hab ich doch gesagt.«

Mit einem Kopfnicken signalisierte ihr der Kommissar, fortzufahren.

»Ich bin also rein und direkt in den Keller. Die Tür hab ich aufgelassen. Ich musste ja die Gläser und Tücher hochholen.«

Wieder unterbrach der Kommissar Katis Ausführungen: »Gläser?«

»Für das Taizégebet, das die Sabine Kirschbaum heute Abend veranstaltet«, erklärte Kati. »Waren Sie schon mal in Taizé? Ich auch nicht. Aber so ein Taizéabend ist echt schön. Mit Tüchern und Kerzen. Und damit die Tücher nicht direkt in Flammen aufgehen, braucht man eben Kerzengläser.«

»Verstehe. Sie sind also mit den Gläsern für die Kerzen aus dem Keller gekommen.«

»Genau. Und in der Sakristei musste ich erst einmal sortieren. Die sauberen und die dreckigen. Außer mir macht die wohl nie jemand sauber. Und manche sind ganz schwarz.«

Kati fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare.

»Sie glauben ja gar nicht, wie viel Ruß so ein kleines Teelicht machen kann.«

Tietke schnaufte vernehmlich, schloss für einen Moment die Augen, schüttelte den Kopf und entschied sich, die letzten Sätze nicht ins Protokoll aufzunehmen.

»Sie haben also die Gläser aus dem Keller geholt und sind mit ihnen in die Sakristei gegangen. Richtig?«

»Richtig. Dann hab ich sie sortiert, die sauberen in der Sakristei gelassen, die anderen in die Waschbütte gepackt. Die wollte ich später spülen. Dann bin ich wieder runter, um die Tücherrollen zu holen. Und wieder hoch in die Sakristei.« Kati blickte zu dem tippenden Kriminalbeamten. »Kommen Sie mit?«

Irritiert sah er von der Tastatur auf. »Wohin?«

Kati runzelte die Stirn, räusperte sich und sprach jedes Wort besonders deutlich und langsam: »Können Sie meinen Ausführungen folgen?«

Der Beamte schloss die Augen, atmete tief ein und aus.

»Ja«, knurrte er dann, »weiter.«

»Dann hab ich was gehört und kurz gehorcht. Doch alles war still. Jemand hat gerufen. Na ja, nicht gerufen, eher gestöhnt. Nee, nicht so jetzt. Hach, wie sagt man denn? Hörte sich ganz gepresst an. Dann hab ich die Tücherrollen ordentlich zur Seite gelegt. Ich wollte die ja nicht noch bügeln. Das ist nämlich ne elendige Arbeit, sag ich Ihnen. Wenn das Bügeleisen zu heiß ist, schmilzt Ihnen der Stoff. Und wenn es zu kalt ist, kriegen Sie die Bahnen nicht glatt.«

Kommissar Rommerskirchen ergriff das Wort, bevor die Küsterin ihm noch den Aufbewahrungsort des Bügelbretts und das Anheizen des Bügeleisens in allen Details schildern konnte. »Sie haben die Sachen zur Seite gelegt. Und dann?«

»Dann bin ich in die Kirche gegangen und hab erst mal nix gesehen. Ach nee, vorher hab ich ja noch mal was poltern gehört. Das war wohl, wie Kaplan Overath die Treppe runtergefallen ist. Also bin ich zur Treppe. Und da lag er. Ganz gekrümmt und mit verrenktem Kopf.«

»Haben Sie den Mann angefasst? Oder angesprochen?«

»Nee, Herr Kommissar, da war nix mehr mit ansprechen. Das hab ich sofort gesehen.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Na, das, was jeder gemacht hätte. Ich hab zur heiligen Barbara gebetet, dass sie ein gutes Wort für den Kaplan einlegt, weil er ja quasi unvorbereitet vor unseren Herrgott treten musste. Also mit ohne Sterbesakramente versehen worden zu sein.«

Kommissar Rommerskirchen hob die Augenbrauen und suchte die Reaktion des Kollegen. Der hatte aufgehört zu tippen und schielte mit aufgeklapptem Mund am Monitor vorbei auf die kleine Frau, die ihm mit diesem Protokoll die härteste Probe seiner bisherigen Amtszeit bescherte.

Unbeirrt fuhr die Küsterin fort. »Ich bin rübergeflitzt und hab die 110 gerufen.«

»Rübergeflitzt? Wohin? In die Sakristei?«, fragte Kommissar Rommerskirchen.

»Nee, nach Hause. Ich wohn doch direkt gegenüber.«

»Sie hatten also kein Handy dabei.«

»Wofür? Nee, nee. Das Handy brauch ich nur, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und ne Panne habe und den ADAC anrufen muss. Also, ich bin nach Hause gegangen und habe von dem Telefon, das bei uns im Flur steht, die Polizei angerufen. Dann bin ich wieder zurück, hab bei der Muttergottes ne Kerze angemacht und den Rosenkranz gebetet, bis Sie kamen.«

Kommissar Rommerskirchen nickte. »Ist irgendjemand zwischenzeitlich in der Kirche gewesen? Haben Sie abgeschlossen, als Sie mal eben zum Telefonieren rübergeflitzt sind?«

Kati sah den jungen Mann an. Ihr Erschrecken war ebenso groß wie ihre Augen. Sie schwieg. Ihr Blick wanderte von rechts nach links, suchte den des Kommissars, der ihr nicht das erhoffte beruhigende Lächeln schenkte, und blieb schließlich auf ihren Händen liegen, die erneut mit dem Reißverschluss der Jacke beschäftigt waren.

»Sie haben die Kirche also nicht abgeschlossen?«

Kati schüttelte so zaghaft den Kopf, als könne er jeden Moment herunterfallen und davonkullern.

»Der Kollege, der vor Ort war, hat zu Protokoll gegeben, dass Sie immer wieder gesagt hätten: ›Es tut mir so leid. Ich bin alles schuld.‹ Stimmt das?«

Kati presste die Lippen zusammen und nickte ebenso zaghaft, wie sie gerade den Kopf geschüttelt hatte.

»Hätte ich nicht die Tür zum Kirchenkeller aufgelassen, wär der Kaplan nicht die Treppe runtergefallen. Hätte ich nur nicht das Licht im Keller brennen lassen.«

Kommissar Rommerskirchen warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu. Als dieser nickte, fuhr er fort:

»Und der Wein?«

»Welcher Wein?«

»Frau Küppers, wir wissen mittlerweile, dass Markus Overath nicht durch den Sturz auf der Treppe ums Leben gekommen ist.«

»Sondern?«

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Leseprobe aus der überarbeiteten Neuauflage (inkl. Liste rheinischer Wörter für Nicht-Rheinländer) 2024

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