Kati Küppers
und der liegende Holländer

Der Zufall ist das Pseudonym,
das der liebe Gott wählt,
wenn er inkognito bleiben will.

Albert Schweitzer

Prolog


Manni liebte alte Scheunen und vergessene Garagen. Irgendwann würde er in einer den Oldtimer seiner Träume entdecken, da war er sich sicher. Er hatte bereits ein paar brauchbare Ersatzteile gefunden für die Autowracks, die auf seinem Hof auf ihre Instandsetzung warteten.
Als er die alte Scheune erspähte, ließ er den Wagen am Straßenrand stehen und lief auf das Tor zu. Er schlüpfte durch den schmalen Spalt und sog überrascht die Luft ein. Auf diesen Fund war er nicht gefasst gewesen. Damit wollte er nichts zu tun haben.
Er wich einen Schritt zurück, bis er das Tor im Rücken spürte. Seinen Blick auf das Dickicht gerichtet, zwängte er sich rückwärts aus der Scheune. Nur weg hier.
Der Kinnhaken traf ihn mit voller Wucht. Knock-out.

Als er zu sich kam, spürte er den kalten Metallboden eines Transporters in seinem Rücken und wurde gründlich durchgeschüttelt. Sehen konnte er nichts. Der Sack über seinem Kopf stank entsetzlich. Gierig saugte er die Luft ein. Das machte es nur schlimmer. Die Arme auf seinem Rücken schmerzten und die Fesseln an den Handgelenken schnitten ihm ins Fleisch. Sein Kopf dröhnte. Er roch Gras und etwas Süßliches, wie Tomaten. Ihm wurde schlecht.
Nur nicht in den Sack kotzen. Konzentriere dich. Auf etwas, das du kennst. Das Geräusch des Motors. Ein Ford Transit vielleicht.
Das Gerumpel des Wagens machte es ihm unmöglich, eine bequeme Stellung zu finden. Bei der nächsten Bodenwelle stieß er sich den Kopf. Das war ein Ford Transit! Garantiert. Dann dämmerte er weg.

Sie zerrten ihn aus dem Wagen, stießen ihn durch die Gegend und brachten ihn in ein Haus. So viel bekam er trotz Sack mit.
Als sie ihm den Sack vom Kopf rissen, schien ihm eine Lampe direkt ins Gesicht. Manni musste blinzeln. War er beim Geheimdienst gelandet? Oder hatten die Typen nur ihre Verhörmethoden dort gelernt?
»Warum schnüffelt ihr uns nach?«
Wem die Stimme gehörte, konnte er nicht sehen. Es war eindeutig ein Mann, der die Frage gestellt hatte. Der Kerl sprach mit einem Akzent, den Manni nicht einordnen konnte. Er hatte einen merkwürdigen Singsang in der Stimme und verband ein Wort mit dem anderen. Manni hatte Schwierigkeiten, den Sinn des Gesagten zu verstehen.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er.
Die Ohrfeige kam von rechts, ohne Ankündigung.
Er versuchte, ruhig zu atmen, um die Fassung nicht zu verlieren.
»Das war die falsche Antwort«, sagte die Stimme aus dem Off.

Wenn er nur wüsste, was sie hören wollten. Was er wusste, war, dass hinter ihm jemand stand, der zuschlagen konnte. Er musste auf der Hut sein.

Kapitel 1

Die Ferienwohnung lag in der ersten Etage und verfügte über eine großzügige Dachterrasse, von der man einen herrlichen Blick über Felder hatte, die von Baumhecken gesäumt waren und mit den dazwischen liegenden Wäldchen ein hübsches Muster bildeten. Wenn man sich etwas weiter über das Geländer lehnte, konnte man das Hochmoor mit dem Birkenwäldchen sehen, nach dem der Ortsteil benannt war.
Kati Küppers hatte die Beine im Liegestuhl hochgelegt und blätterte in einem Liebesroman, während sie auf die Rückkehr ihres Mannes Jo wartete. Ihrer Vorliebe für schwarze Oberteile war sie auch im Urlaub treu geblieben, obwohl sie nicht mit einer Beerdigung oder Taufe rechnen musste, für die sie gerne passend gekleidet war. Sie hatte es auch nicht nötig, auf die schlankmachende Wirkung von Schwarz zu setzen, fand aber, dass Schwarz am besten zu ihrem weißen, kurz geschnittenen Haar passte. Und es biss sich nie mit der einen Haarsträhne, die sie nach Lust und Laune mal pink, mal lila färbte. Diesen Sommer hatte sie sich für ein leuchtendes Rot entschieden. Nur der bunte Schal war ihr heute zu warm geworden und hing am Garderobenhaken im Flur.
Endlich hörte sie das Öffnen der Wohnungstür. Das Abstellen der Tasche klang mehr nach dem Abwurf eines Sandsacks.
»Da sind wir!«, rief Jo aus dem Flur. Er hatte Bene, ihren Enkel, von der Bahn abgeholt. Eigentlich hieß er Benedikt, aber niemand nannte ihn so. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er ein Wochenende mit Oma Kati und Opa Jo verbringen wollte.
Kati klappte das Buch zu, legte die Lesebrille zur Seite und hievte sich hoch.
»Hallo Oma.« Bene trat auf die Dachterrasse und Kati musste sich mächtig recken, um ihren Enkel umarmen zu können. In der kurzen Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, war er wieder ein Stück länger, seine Stimme eine Terz tiefer und die Schultern etwas breiter geworden. Die blonden Naturlocken kringelten sich um das gebräunte Gesicht. Ihr kleiner Enkel war ein bildhübscher Bengel geworden, dem die Mädchen bestimmt schmachtend hinterherschauten. In seinem feingeschnittenen Gesicht erkannte Kati die Züge ihres Mannes, wenn er lachte.
»Schön, dass du da bist. Es fing gerade an, ein wenig langweilig zu werden.« Zu spät bemerkte sie Jos erschrockenen Blick und wies auf das Buch im Liegestuhl. »Liebesromane sind oft so vorhersehbar.«
»Warum versuchst du es nicht mal mit Krimis?«, sagte Bene.
Abwehrend hob Kati die Hände. »Wir sind hier im Urlaub, um nicht mehr an von Maden befallene Leichen zu denken.« Sie schüttelte sich bei dem Gedanken. »Und die Aufregung um Kaplan Overath und das Gift im Messwein ist mir auch noch lebhaft in Erinnerung. Da werde ich den Teufel tun und einen Krimi lesen.«
»Hast ja recht.« Bene trat an das Balkongeländer. »Schön ist es hier. Viel Nichts. Super. Genau das brauchen wir.«
Sie bemerkte Jos breites Grinsen, während Bene in der Ferienwohnung verschwand und kurz darauf mit einer länglichen Tasche zurückkehrte. Kati runzelte die Stirn.
»Seit wann interessiert dich plattes Land? Das haben wir in Niederbroich doch auch.« Noch mehr interessierte sie, was in der Tasche stecken mochte. »Willst du hier draußen zelten?«, fragte sie.
Bene und Jo schauten sich an, lachten und schüttelten die Köpfe. Statt Kati in ihre Geheimniskrämerei einzuweihen, guckten sie sie an wie ein Kind, das erraten soll, was in seinem Geburtstagsgeschenk steckt. Kati tat ihnen den Gefallen und spielte mit.
»Ich hab’s. Du bist unter die Angler gegangen«, mutmaßte sie. »Aber Fliegenfischen, mein lieber Bene, hat nichts mit Insektenfangen vom Balkon aus zu tun.«
Bene bog sich vor Lachen. »Ach, Oma. Du hast immer die besten Ideen.« Endlich öffnete er den Reißverschluss der Tasche und holte ein Stativ heraus. »Hier ist es bestimmt dunkler als zu Hause. In Niederbroich sind die großen Städte einfach zu nah dran. Lichtverschmutzung, weißt du.«
Kati strich sich die rotgefärbte Strähne hinters rechte Ohr. Ein Zeichen dafür, dass sie nachdachte.
»Du willst Fotos machen! Landschaftsfotografie? So mit Langzeitbelichtung und so? Warte, der neue Trend ist doch – sag nichts. Ich komm gleich drauf. Ultraviolett?«
Bene baute das Stativ auf und justierte die Länge der Beine.
»Meinst du Infrarotfotografie? Nein, tut mir leid. Es ist nur ein einfaches Teleskop. Zum Sternegucken.«
»Sternegucken«, wiederholte Kati lahm.
»Kannst du dir etwas Entspannenderes vorstellen?«, wollte Jo wissen.
Kati hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken, so entspannt war sie. »Ist noch ein bisschen zu hell, um Sterne zu sehen. Bis zum Einbruch der Dämmerung könnten wir Karten spielen. Ich habe extra den Pokerkoffer mitgenommen. Oder ist euch das zu aufregend?«
»Du warst diejenige, die sich im Urlaub entspannen wollte, meine Liebe«, erwiderte Jo.
»Ich wollte mich erholen«, widersprach Kati. »Das habe ich ja auch getan. Ich habe die Füße hochgelegt, drei Bücher angefangen und jeden Abend mit dir eine Runde durch den Ort gedreht. Um die Kirche, bis zum Dorfgrill und wieder zurück.«
Auch wenn Jo, seitdem er in Rente war, zu Hause begeistert und gekonnt den Kochlöffel schwang, hatte er sich geweigert, im Urlaub zu kochen. Er hatte nur einen kurzen Blick in die Küche unter der Schräge geworfen, die Pfanne und den Topf begutachtet und das leere Gewürzregal gesehen.
»Fürs Frühstück reicht’s«, hatte er gesagt.

Kati sah das Blitzen in Jos Augen.
»Dann können wir jetzt anfangen, richtig Urlaub zu machen. Ich hätte da noch so einige Punkte auf meiner Liste.« Er griff in die Brusttasche seines Hemdes, holte ein akkurat gefalztes Blatt Papier heraus und faltete es auseinander. »War schon mal einer von euch in einer Glockengießerei?«
»Was für eine Liste?«
»Hundert Dinge, die ich tun will, bevor ich hundert bin.«
Kati hob die Augenbrauen und musterte ihren Mann.
»Du bist noch keine siebzig!«
»Mit manchen Dingen kann man nicht früh genug anfangen. Zum Beispiel endlich Tango Argentino lernen und auf eine Milonga gehen«, konterte Jo.
Kati reckte den Hals. »Was steht denn da noch drauf auf deiner Liste?«
Bene trat zwischen seine Großeltern. »Das klingt ja spannend, Opa. Lass mal sehen.«
Jo drückte das Blatt Papier an sich, sodass niemand einen Blick darauf werfen konnte.
»Das erfahrt ihr, wenn sie vollständig ist.«
»Wie viele Punkte fehlen denn noch?«, fragte Kati und überlegte, was auf Jos Liste auf keinen Fall fehlen durfte.
Jo schüttelte den Kopf. »Keine Vorschläge. Und erst recht keine Kommentare. Macht euch eure eigenen Listen.«
Kati schnaufte. »Wie kommst du darauf, dass wir dir Vorschläge machen wollen?«
»Netter Versuch. Es steht euch auf die Stirn geschrieben.« Jo lächelte und küsste Kati auf den Scheitel. »Ich hole jetzt den Pokerkoffer. Mit euch beiden hab ich leichtes Spiel.«

Sie spielten Runde um Runde und gaben zusätzliche Jetons aus, weil Kati zu schnell den Einsatz erhöht und alles verzockt hatte. Noch stand die Sonne zu hoch am Himmel, um das Spiel schon enden zu lassen. Als es schließlich so dämmrig war, dass sie die Karten nicht mehr erkennen konnten, hatte Bene die meisten Pokerchips vor sich liegen.
Kati holte sich ein Glas Wein, setzte sich in den Liegestuhl und beobachtete, wie Bene das Teleskop ausrichtete. Durch das T-Shirt zeichnete sich jeder Wirbel seines gebeugten Rückens ab.
»Warst du heute eigentlich in der Schule?«
Bene drehte sich um. »Wo sollte ich sonst gewesen sein?«
»It’s Friday«, entgegnete Kati.
Bene runzelte die Stirn. »Weiß ich. Und?«
Jo legte den Arm um die Schultern seines Enkels. »Deiner Großmutter war früher jeder Grund recht, die Schule zu schwänzen.«
Empört stellte Kati das Weinglas ab und brachte den Liegestuhl wieder in Sitzposition. »Ich habe nie die Schule geschwänzt.«
»Du sollst nicht lügen!«
»Ich habe mir lediglich mal freigenommen, wenn wichtige Dinge es erforderten, meinen Protest auf die Straße zu tragen.«
Jo nickte. »Free Nicaragua. Und Jute statt Plastik.«
»Was ist daran verkehrt?«
»Nichts. Außer …«
»Ich fahre mit dem Rad zur Schule.«
»Außer was?« Kati überging Benes Einwurf und sah ihren Mann an.
»Außer dass wir einen Diesel fahren und es Kindern überlassen, unsere Welt zu retten.«
»Ist vielleicht nicht verkehrt, auf die Straße zu gehen. Einige machen es nur, solange es sie nichts kostet«, sagte Bene. »Ein paar aus der Stufe unter mir werden von ihren Mamis mit dem SUV zur Fridays-for-Future-Demo nach Köln gekarrt und meckern in der Mensa, wenn es keinen Tofu-Burger gibt.«
Bene schaute durchs Teleskop und Kati ließ sich nachdenklich in den Liegestuhl fallen.
»Eben hatte ich ihn noch im Visier. Jetzt ist er verschwunden«, grummelte Bene vor sich hin.
»Der Jupiter? Soll ich mal suchen?« Jo steckte die Brille in die Brusttasche seines Hemdes und schaute durchs Fernrohr. Er drehte am Rädchen, um scharf zu stellen, schwenkte ein Stück nach rechts und eine Nuance mehr nach oben. »Da ist er wieder, glaube ich. Schau mal, ob er das ist.«
Kati zollte ihrem Mann stumm Respekt. Wieder einmal fand er aufmunternde Worte, um andere zum Weitermachen zu motivieren. Das Wort Aufgeben benutzte er nur, wenn es sich um Pakete handelte, die er zum Verschicken zur Post bringen wollte. Kati wischte die Grübeleien beiseite. Lieber freute sie sich daran, Bene und Jo zu beobachten, als selbst die Sterne durchs Teleskop zu betrachten. Zudem fand sie, dass Sterne mit dem Fernrohr nur unwesentlich besser zu sehen waren als mit bloßem Auge. Und bei Weitem nicht so toll und farbig wie in den wissenschaftlichen Fernseh-Dokus. Sie nippte an ihrem Rotwein und genoss den lauen Abend. Über ihr funkelten die Sterne. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie alle hießen, den Unterschied zwischen Sternen und Planeten schon wieder vergessen hatte und sich nicht vorstellen konnte, dass einige dieser leuchtenden Punkte nicht mehr existieren sollten, während sie sie gerade betrachtete, so wusste sie doch mit unerschütterlicher Gewissheit, dass Gottes Macht all die Schönheit über ihr geschaffen hatte.
»Jetzt seht euch das an«, riss Bene sie aus ihren Gedanken. Er war aufgebracht und deutete auf den Horizont. »Wo kommt das Licht denn plötzlich her? Da ist doch kein Ufo gelandet.«
Kati kniff die Augen zusammen und schaute an Benes ausgestrecktem Arm vorbei auf den Horizont. Hinter dem Wäldchen, das sich dunkel von der Umgebung abhob, leuchtete es.
Kati zuckte mit den Schultern. »Vielleicht feiert da jemand eine Party. Oder ist das schon der nächste Ort?«
»Mir ganz egal. Seitdem es da strahlt, ist der Jupiter weg«, maulte Bene.
Jo schaute durchs Teleskop. »Das ist ja wirklich merkwürdig, dieses Licht. Aber den Jupiter sehen wir wieder besser, wenn wir noch eine Weile warten.« Er drehte sich zu Bene und Kati um. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns die Gegend morgen bei einer Radtour mal genauer ansehen?«
»Und wenn es regnet?«, grummelte Bene.
»Dann hast du die Wahl zwischen Glocken- und Imkereimuseum«, antwortete Jo, »zwei offene Punkte auf meiner Liste.«
»Alternativ können wir auch in die Kirche gehen und für besseres Wetter beten. Die ist dafür den ganzen Tag auf«, ergänzte Kati die Auswahl.
Bene schaute sie mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte. »Die Kirche ist auf, um für besseres Wetter zu beten? Ich wusste nicht, dass das Wetter im Münsterland so schlecht ist.«
Kati verdrehte die Augen. »Ist es doch gar nicht. Die Kirche ist den ganzen Tag geöffnet, damit du dort beten kannst. Wofür du betest, bleibt dir überlassen.«
Bene zwinkerte ihr zu und betrachtete das Leuchten am Horizont. »Ich wüsste ja schon gerne, was da ist.«
»Kann man durch das Teleskop denn nicht mehr erkennen?«, wollte Kati wissen. »Stell doch mal auf das Wäldchen scharf.«
Bene zuckte mit den Achseln und trat dann zur Seite. »Schau selbst.«
Kati kniff das linke Auge zu und starrte durch das Teleskop. »Ich seh nur schwarz – huch! Die Welt steht auf dem Kopf!«
»Oh nein!«, rief Jo entsetzt. »Kati, was hast du getan?«
Erschrocken trat Kati einen Schritt zurück.
»Du hast nichts falsch gemacht, Oma. Wenn man durch ein Teleskop schaut, steht das Bild auf dem Kopf. Nur bei Planeten ist uns das egal«, erklärte ihr Bene.
Kati sah Jos breites Grinsen.
»Fieser Möpp! Eine alte Frau so zu veräppeln. Schäm dich.« Sie griff nach ihrem Weinglas und ließ Bene mit Jo auf der Dachterrasse allein.

Kapitel 2

Vor dem Schalter für Mietautos hatte sich eine Schlange gebildet, die von schwarzen Absperrbändern dazu gezwungen wurde, sich ewig lang hin und an der nächsten Biegung ebenso lang wieder zurückzubewegen, bevor sie wieder ihrem Ziel näher kam. Warum hatte er nicht daran gedacht, einen Wagen online zu buchen? Vielleicht sollte er sich besser ins nächste Taxi setzen und sich zu Natalie fahren lassen. Ihren Berichten zufolge wohnte sie mitten im Nirgendwo. Das war genau die Gegend, die seine Auftraggeber für ihre Projekte bevorzugten, aber ohne Mietwagen wäre er dort aufgeschmissen.
Eric Parcer reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, schaltete den Flugmodus seines Smartphones aus und wartete, bis sich das Gerät mit dem Internet verbunden hatte. Dann überprüfte er die eingegangenen Mails auf ihre Dringlichkeit. Keine Rückmeldung von Natalie. Er beobachtete die Menschen um sich herum. Die meisten standen zu zweit oder zu dritt zusammen und hatten Unterlagen in den Händen. Wahrscheinlich waren sie schlauer gewesen als er und wussten bereits, mit welchem Auto sie gleich das Gelände des Düsseldorfer Flughafens verlassen würden. Über dem weit entfernten Schalter suchte er nach Hinweisschildern für online gebuchte Fahrzeuge und für Schusselige ohne Buchung wie ihn, fand aber keine. Geduldig schob er sich mit seinem Trolley im Schneckentempo vorwärts. Schritt für Schritt, mal langsamer, mal schneller. Endlich konnte er die beiden Mitarbeiter hinter dem Mietwagenschalter ausmachen. Der junge Mann mit den verstrubbelten Haaren beugte sich gelegentlich zu seiner Kollegin hinüber, von der Eric nicht viel mehr als einen wippenden Pferdeschwanz sah, wenn sie den Kopf schüttelte. Dann zwang ihn das Absperrband in die entgegengesetzte Richtung. Überrascht stellte er fest, dass hinter ihm nur noch ein verliebtes, in sich verschlungenes Pärchen wartete und der Eingang, den er vorhin benutzt hatte, mittlerweile mit einem weiteren Absperrband geschlossen worden war. Bedeutete das, dass alle Mietwagen vergeben waren? Ob er noch einen bekam? Oder musste er sich beim nächsten Mietwagenanbieter anstellen? Irgendwer würde schon einen fahrbaren Untersatz für ihn haben. Große Ansprüche stellte er nicht.
Die Schlange vor ihm bewegte sich wieder Richtung Schalter. Jetzt konnte er auch die junge Frau sehen, die emsig Papiere ausdruckte, falzte und über die Theke reichte, um gegen eine Unterschrift den Fahrzeugschlüssel auszuhändigen. Sie trug das gleiche grüne Poloshirt mit dem Emblem der Autovermietung wie ihr Kollege und wenn sie lächelte, zeigte sich auf der linken Wange ein Grübchen. Dabei empfing sie jeden, der an ihren Schalter trat, mit einem Strahlen, als stünde George Clooney persönlich vor ihr.
Während die Schlange vor ihm stetig kürzer wurde, überlegte Eric, ob er sie nach ihrer Telefonnummer fragen sollte, und als ihr Kollege ihn endlich zu sich an den Schalter winkte, ließ er einem Impuls folgend den Turteltäubchen den Vortritt, um von ihr bedient zu werden. Ihr Strahlen wich kurz einem Erstaunen, als sie den Kopf in den Nacken legte und zu ihm aufschaute.
»Wow«, hauchte sie, bevor sie sich räusperte, den Rücken straffte und wieder ihr Grübchen zeigte. »Ich wäre Ihnen gerne behilflich, aber die Cabrios sind alle weg, fürchte ich.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich ein Cabrio mieten möchte?«
»Nun ja, zum einen haben wir nur noch einen Audi A1 auf dem Hof stehen, in den wir Sie auf keinen Fall hineinbekommen. Oder ohne Dosenöffner nicht wieder heraus.«
»Klingt fein«, antwortete er und merkte sofort, dass er zu lange in Kanada gewesen war. »Audi klingt gut«, verbesserte er sich. Doch die Frau am Schalter schüttelte lachend den Kopf und ließ ihren Pferdeschwanz wippen. »Nicht der A1.«
»Sorry«, unterbrach der Kollege ihr Gespräch und zuckte bedauernd die Schultern, »den A1 habe ich gerade an diese Herrschaften vergeben.« Er holte die Papiere aus dem Drucker und widmete sich wieder dem Pärchen.
Eric drehte ihnen den Rücken zu und lehnte sich über den Tresen. »Und zum anderen?«
Sie sah ihn irritiert an. »Zum anderen was?«
»Das frage ich Sie. Zum einen wollten Sie mir den Audi nicht vermieten und zum anderen?«
Ein leichter Rotschimmer zog sich über ihre Wangen. Sie schielte zu ihrem Kollegen hinüber, lehnte sich ebenfalls ein Stück vor und flüsterte: »Nur für den Fall, dass Sie mich gefragt hätten, ob ich mit Ihnen eine Runde um den Block fahre. Oder Kaffeetrinken gehe. Oder so.« Sie zwinkerte ihm zu und ihr Grübchen vertiefte sich. »Ich bin noch nie Cabrio gefahren.« Dann lehnte sie sich zurück. »Aber das hat sich ja eh erledigt. Kein Cabrio. Kein Audi. Nicht mal ein E-Bike kann ich Ihnen anbieten.«
»Jammerschade. Ich wäre zu gerne mit Ihnen um den Block gefahren.« Eric zwinkerte ihr zu und griff nach seinem Trolley.
»Warten Sie. Mir kommt gerade eine Idee.« Während sie sich das Handy ans Ohr hielt, versprachen ihre Augen, dass Eric das Warten nicht bereuen würde. »Ein Bekannter schuldet mir noch einen Gefallen. Kurzen Augenblick«, erklärte sie. »Bernd? Hier ist Charlie. Ich brauche einen Wagen.« Sie wandte sich an Eric. »Wie lange möchten Sie ihn?«
Eric zuckte mit den Achseln. »Eine Woche wäre gut. Vielleicht auch zwei.«
»Zwei Tage«, sagte sie ins Telefon. Eric wollte gerade protestieren, als sie die Hand hob und sich abwandte. »Zwei Tage. Dann steht er wieder auf deinem Hof. Versprochen.« Sie nickte, was ihr Gesprächspartner natürlich nicht sehen konnte. »Das schaffst du auch schneller. Na schön.«
Sie beendete das Gespräch und strahlte Eric an. »Ich habe ein Auto für Sie. 48 Stunden. Und dann können Sie es bei mir gegen ein Cabrio umtauschen. Jetzt sagen Sie bloß nicht nein, sonst bin ich bei Bernd unten durch.«
Eric lächelte. Er mochte es, wenn ihr Grübchen zuckte. »Danke, Charlie.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, eine Spur Unsicherheit in ihrem Blick entdeckt zu haben.
Sie schaute auf die Uhr. »Ja dann. Uns bleibt noch die Zeit für einen Kaffee, bis Bernd den Wagen gewaschen hat. Oder vom Müll befreit. Oder was auch immer so lange dauert, dass wir ihn erst in einer Stunde abholen können.« Sie zog ihre Tasche unter dem Tresen hervor. »Ich räume nur schnell meinen Kram zusammen. Bin sofort bei Ihnen.«
Sie sprach sich mit dem Kollegen ab und verschwand hinter der Hochglanzwerbewand, auf der in großen Buchstaben der Name der Autovermietung stand.
Die Aussicht, mit dieser Frau warten zu müssen, war für Eric der beste Einstieg, den er sich für seinen Auftrag denken konnte. Noch einmal checkte er seine Mails. Natalie hatte sich zwischenzeitlich nicht gemeldet. Er durchsuchte seine Kontakte und fand zwei Adressen von ihr. Eine in Rotterdam, die wahrscheinlich noch aus der Zeit an der Erasmus-Universität stammte und garantiert nicht mehr aktuell war. Die andere war vermutlich das Dorf im Nirgendwo, von dem sie damals zwar abfällig, aber dauernd gesprochen hatte. Und wenn das Glück ihm weiterhin hold war, würde er heute Abend in Niederbroich vor ihrer Tür stehen. Vorsichtshalber suchte er nach einer Übernachtungsmöglichkeit und stutzte. Dieselbe Adresse ergab einen Treffer.
Kleines Gartenhaus – für die perfekte Entspannung im Grünen oder der optimale Ausgangspunkt zur Erkundung des Niederrheins zwischen Köln und Düsseldorf, las er.
Unter der Anzeige stand Familie Hamacher. Ob sie verheiratet war? Sie hatten sich wirklich aus den Augen verloren.
Während er noch seinen Gedanken nachhing, zog eine kleine, zierliche Person seine Aufmerksamkeit auf sich. Die blonde Mähne fiel ihr bis zur Schulter und in den Gläsern ihrer Sonnenbrille konnte er sich spiegeln. Sie stöckelte in Highheels auf ihn zu, für die man andernorts einen Waffenschein gebraucht hätte, und zeigte mächtig viel Haut. Ein paar Zentimeter ausgefranster Jeansstoff verhüllten notdürftig die Hüfte und oberhalb des Bunds schmückte eine tätowierte Sonne den Bauchnabel, die man nur sah, weil das blassrote T-Shirt knapp unterhalb des Busens seitlich geknotet war.
»Wollen wir?«
Eric hob die Augenbrauen. »Charlie?«, mutmaßte er und entdeckte das Grübchen auf der linken Wange.
»Eigentlich Charlotte Luise von Donnersmark.« Sie legte ein atemberaubendes Tempo auf ihren Stilettos vor.
»Donnerwetter!«, murmelte er und beeilte sich, zu ihr aufzuschließen.
»Nein! Donnersmark. Aber wenn du mir deinen Namen endlich verrätst, darfst du auch Charlie sagen.«
Eric räusperte sich. »Entschuldigung. Ich bin Eric. Eric Parcer.« Ihm war nicht entgangen, dass sie nicht nur die Arbeitskluft abgestreift hatte, sondern auch vom geschäftlichen Sie zum kumpelhaften Du übergegangen war.
»Der große Bruder von Peter Parker?«
Sie kicherte über ihren Witz, über den er nur noch müde lächeln konnte, weil er ihn schon zu oft gehört hatte. Er hatte es aufgegeben, darauf hinzuweisen, dass er sich nicht mit ›k‹ schrieb. Charlotte Luise von Donnersmarks großer Bruder war er zum Glück nicht, da war er sich sicher.
»Na gut.« Sie schaute auf die Uhr. »Für einen Kaffee haben wir jetzt doch keine Zeit mehr. Aber für eine Runde um den Block reicht’s noch.«

Sie hatten das Terminal längst hinter sich gelassen, doch statt auf den Weg hatte Eric nur auf die knackigen Jeanskurven, die vor ihm hin- und herwackelten, geachtet. Jetzt drehte sich Charlie zu ihm um.
»Mein toter Coyote steht gleich hier um die Ecke.«
Eric runzelte die Stirn.
»Keine Angst. Der beißt nicht.«
»Weil er schon tot ist?«
Ihr Grübchen zitterte, als sie versuchte, sich das Lachen zu verkneifen.

Charlies toter Coyote entpuppte sich als ein alter Toyota und war die reinste Fundgrube.
Sie grinste, während sie hektisch leere Trinkflaschen, mumifizierte Apfelkitschen und eine angebrochene Kekspackung aus dem Fußraum des Beifahrersitzes entfernte und hinter dem Fahrersitz zwischenlagerte.
»Noch ein Grund, warum meine Familie mich verstoßen hat.«
»Hat sie das?« Erics Neugier, mehr über ihre Familie zu erfahren, war geweckt.
»Nein. Natürlich nicht. Ich hab Semesterferien«, sagte sie und öffnete den Kofferraum. Sie räumte Wagenheber, Warndreieck, ein paar Schraubenschlüssel und eine ordentliche Sammlung leerer Einkaufstaschen zur Seite, um Platz für Erics Trolley zu schaffen. »Und du?«
Eric suchte nach einer passablen Antwort und fand keine. Wenn Charlie sich über seinen Namen lustig machen konnte, konnte er das auch. »Ich bin Waise und wohne bei meinem Onkel Ben und meiner Tante … ach nee, das war Peter.«
Sie streckte ihm die Zunge raus.
»Nun steig schon ein. Sonst kommen wir noch zu spät.«

Sie waren nicht weit gefahren, bis Eric in dem Gewimmel von Straßen und Gässchen rund um den Flughafen die Orientierung verloren hatte. Jetzt hielt Charlie auf einem großen umzäunten Schotterplatz voller Autos, der Eric mehr an einen Schrottplatz als an einen Parkplatz erinnerte. Am hinteren Ende des Platzes stand ein Wohnwagen. Als sie näherkamen, kämpfte sich ein Glatzkopf aus einem Campingstuhl hoch. Seine Wampe spannte sich unter dem Doppelripphemd und ragte über den Bund der Militaryhose mit den ausgebeulten Taschen hinaus.
Er trat seine Kippe aus und kam auf sie zu.
»Bleib erst einmal hier«, wandte sich Charlie an Eric und stieg aus.
Eric stieg ebenfalls aus, blieb aber am Wagen stehen. Er stützte sich auf die Beifahrertür und beobachtete das vertrauliche Geplänkel zwischen Charlie und dem Glatzkopf. Der Typ gehörte eindeutig zu der Art von Menschen, um die Eric normalerweise einen weiten Bogen machte. Meistens fühlten sie sich schon von seiner bloßen Erscheinung provoziert. Er maß nun einmal zwei Meter und drei, hatte ein kantiges Kinn und dazu das Kreuz eines Rugbyspielers. Sein Körper sähe noch ganz anders aus, wenn er endlich wieder regelmäßig zum Joggen oder Schwimmen käme.
Vom Wohnwagen wehte ein leichter Wind den Geruch nach menschlichem Schweiß und Tomaten herüber, die hier garantiert nicht wuchsen. Aber Eric kannte diesen Geruch nur zu gut, was ihm den Glatzkopf nicht sympathischer machte. Jetzt kam er mit Charlie auf ihn zu.
»Sie sind also der Kerl, der in keinen Mietwagen passt.«
Er reichte Eric seine verschwitzte Pranke.
»Wenn Sie so wollen.« Eric schlug ein. Ein fester Händedruck. Der offene, neugierige Blick und das gewinnende Lächeln des Glatzkopfes erstaunten ihn. Er folgte ihm durch die langen Reihen der parkenden Autos, bis sie vor einem Volvo standen.
»Der müsste passen«, meinte der Glatzkopf, als hätte er Eric einen Maßanzug in die Umkleide gereicht, und ließ den Wagenschlüssel vor Erics Nase baumeln. »Ich krieg Ihren Perso und die Sänfte gehört für die nächsten 48 Stunden Ihnen.«
Eric ignorierte das Unbehagen in der Magengrube und zückte das Portemonnaie, in dem er auch seinen Ausweis aufbewahrte. Der Glatzkopf griff nach dem Dokument, schaute kurz hinein und ließ den Autoschlüssel in Erics aufgehaltene Hand fallen.
»Tank ist halb voll. Genau so krieg ich den übermorgen wieder zurück«, sagte er und stapfte in Richtung Wohnwagen davon, bevor Eric sich entscheiden konnte, ob er sich bedanken wollte.
»Und der Preis?«, erkundigte er sich bei Charlie und umrundete den SUV. Für Kanada wäre der Wagen perfekt. Hier fand er ihn eine Spur zu protzig, aber immer noch besser als laufen.
»Hundertfünfzig, bar auf die Kralle, wenn er ohne Schrammen zurückkommt«, rief der Glatzkopf über den Platz, ohne sich umzudrehen. Charlie grinste und zuckte mit den Schultern.
»Und wenn nicht?«, wollte Eric von ihr wissen.
Sie zog eine Schnute und fuhr sich mit der flachen Hand über die Kehle. »R.I.P. So ist er halt, der Bernd.«
Eric verzog den Mund und hoffte, dass sie es für ein Lächeln hielt. Nach einer Vollkaskoversicherung fragte er jetzt lieber nicht.
In der Zwischenzeit hatte der Glatzkopf den Wohnwagen wieder erreicht.
»Soll ich der Pussy den Wagen ausparken, oder watt?«, brüllte er über den Platz.
Eric entriegelte das Auto und setzte sich hinters Steuer. Er fuhr den Sitz ein Stück nach hinten und stellte den Rückspiegel richtig ein.
»Also dann, bis übermorgen. Und gute Fahrt.« Charlie klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter und schlug die Fahrertür zu. Schlagartig fühlte sich Eric wie ein an der Autobahnraststätte auf dem Weg in die Ferien ausgesetzter Hund. Er schnaufte, startete den Motor und tippte Niederbroich ins Navi ein. Tatsächlich berechnete das Gerät drei verschiedene Routen, von denen Eric sich für die zeitlich schnellste entschied. Er setzte zurück und rollte vom Parkplatz.

Kapitel 3

Philip Rommerskirchen hockte auf dem gepflasterten Vorplatz des Mietshauses und hatte die Schrauben, Hebel, Ventile und Rädchen seines Motorrads auf Tüchern vor sich ausgebreitet. Einige hatte er bereits gereinigt, andere auch neu gefettet, je nach Bedarf. Neben ihm stand der alte Werkzeugkasten seines Vaters, den er seiner Mutter abgeluchst hatte mit dem Versprechen, bei Bedarf ihre Reparaturen zu erledigen. Doch wenn sie ihn nicht direkt an die Strippe bekam, weil er wieder einmal einen Verbrecher verfolgte oder einen Mörder überführte, würde sie sich eh an den nächsten Klempner wenden. Rommerskirchen schob die Zunge zwischen die Zähne und ging in Gedanken den Sitz der Einzelteile noch einmal durch. Zu peinlich, wenn er die Maschine später zu Manni schieben musste, weil er sie falsch zusammengebaut hatte.
Manni wohnte ein Stück außerhalb von Niederbroich auf einem alten Bauernhof inmitten von Hühnern und Hasen und schraubte an allem, was Räder hatte. Traktoren, Rasenmäher, Motorräder oder Cabrio-Oldtimer – es gab nichts, was er nicht wieder ans Laufen brachte. Rommerskirchen hatte Manni erst vor ein paar Wochen kennengelernt, als er sich nach einem Motorrad umgesehen und tatsächlich auf dem Hof des Bastlers das Custombike entdeckt hatte, das er nun sein eigen nennen durfte. Entsprechend hegte und pflegte er es jetzt.
»Flip!« Irgendwo weit über seinem Kopf hörte er seine Freundin nach ihm rufen. Warum nahm sie sich nicht genug Zeit, seinen Namen richtig auszusprechen? Sie war nicht Biene Maja. Und er kein Grashüpfer. Er stieß die Luft aus, setzte eine weitere Schraube an ihren Platz zurück und suchte den passenden Schlüssel, um sie festzuziehen. Rike würde ihn schon finden. Wieder hörte er sie nach ihm rufen. Er schaute nach oben. Sehen konnte er sie genauso wenig wie sie ihn. Die Wohnung unterm Dach, die sie nun seit knapp einem Jahr bewohnten, war nicht so groß, um dort lange nach ihm zu suchen. Irgendwann würde sie sich auf den Weg nach unten machen. In der Gesäßtasche seiner Jeans erklang die Tatortmelodie. Er würde sich nicht die Jeans versauen und mit ölverschmierten Fingern das Handy aus der Tasche ziehen, nur weil sie sich den Weg nach unten sparen wollte. Heute hatte er frei. Und er wusste ganz genau, was er mit seiner freien Zeit anfangen wollte. Er zuckte mit den Schultern und schraubte den Luftfilter fest.
Eine Horde Halbstarker zog grölend die Straße hoch. Rommerskirchen wandte sich um und musterte die Gruppe ohne echtes Interesse. Die Jungen schubsten und rempelten sich gegenseitig und versuchten damit, die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen zu erregen. Die verdrehten nur gelangweilt die Augen, steckten dann aber doch die Köpfe zusammen und kicherten. Auffällig war nur ihre Unauffälligkeit. Die Jungs trugen die Haare kurz mit ausrasiertem Nacken und scharf gescheiteltem Schopf. Die Mädchen lang und langweilig. Nur die Haarfarben variierten von Dunkelbraun bis Hellblond.
Rommerskirchen widmete sich wieder seinem Bike.
»Deine Eltern«, hörte er eines der Mädchen hinter seinem Rücken. Allein durch die Betonung des Satzes wusste er, dass sie ihrer Freundin kein Wort glaubte.
»Ja.« Die Antwort kam emotionslos.
»Deine Eltern?« Jetzt schwangen die ersten Zweifel in der Stimme.
»Ja.« Die Antwort kam trocken.
»Boah, ey Alter.«
»Ja.« Knochentrocken.
»Deine Eltern? Echt jetzt?«
»Ja.« So trocken, dass es schon staubte.
»Voll krasser Scheiß, ey.«
Rommerskirchen hätte zu gerne gewusst, was es mit den Eltern auf sich hatte. Er lachte über seine berufsbedingte Neugier und widerstand dem Impuls, sich umzudrehen.
»Ey, du Arsch. Gib das wieder her«, beschwerte sich einer der Jungen hinter ihm. Etwas Leichtes traf ihn am Rücken.
»Vollhonk«, kommentierte ein anderer.
Der Kommissar stand auf und drehte sich um. Genau zwischen ihm und den Jungen lag ein Päckchen auf dem Gehweg. Eine kleine rosa Packung mit aufgedruckten Blasen. Bubblegum las er, Juicy Rolls und Big Size. Während Rommerskirchen noch überlegte, was ihn an der Kaugummipackung irritierte, war einer der Jungs herangesprungen, griff nach dem Päckchen und ließ es in der Jackentasche verschwinden.
»Tschuldigung«, grinste er und hechtete hinter der Gruppe her, die es plötzlich sehr eilig hatte. Ein schwacher Geruch nach Tomate und verbrannten Teeblättern wehte hinter ihnen her und bewirkte Stirnrunzeln beim Kommissar.
»Hier steckst du! Da kann ich ja noch lange rufen.«
Rike stand im Eingang, das Handy in der rechten Hand und die linke in die schmale Hüfte gestemmt. Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Ach du Scheiße.« Ihr Blick glitt über die ausgebreiteten Einzelteile. »Sieht aus, als ob das dauert.«
Rommerskirchen musterte sie kurz. Eigentlich wollte er sie gar nicht fragen, was sie von ihm wollte. Alles, was ihn heute von der Pflege des Bikes abhielt, hielt ihn auch davon ab, morgen das angekündigte Traumwetter für eine Spritztour zu nutzen.
»Sieht so aus«, gab er zurück. Trocken, dachte er. Furztrocken.
Sie hielt ihm das Handy entgegen.
»Pim hat angerufen. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Habe nicht verstanden, was los ist. Aber er will, dass wir uns treffen.«
»Wieso hast du ihn nicht verstanden? So schlecht ist sein Deutsch jetzt wirklich nicht.« Mit holländischem Akzent fuhr Rommerskirchen fort: »Ik dacht, Frauen finde die Holländer so sexy.« Aufreizend wackelte er mit dem Hintern und blinkerte mit den Augen.
»Blödmann«, knurrte Rike. Ihre Wangen überzog ein Rotschimmer, was den Verdacht nahelegte, dass er nicht ganz unrecht mit seiner Blödelei gehabt hatte.
»Er wollte wissen, ob wir da gewesen wären. Es gab wohl ein paar merkwürdige Vorkommnisse auf dem Hof. Irgendwer hat was am Haus gemacht. Oder gesucht.«
Rommerskirchen seufzte und schloss für einen Augenblick die Augen, während er sich die Hände an einem Lappen abwischte. Das war’s dann. Die Spritztour konnte er streichen. Aber die Maschine würde er auf jeden Fall zusammenbauen.
»Wieder was mit dem Notstromaggregat?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Ich hab doch gesagt, ich hab nicht verstanden, worum es genau geht.«
Mit dem rechten Fuß trommelte Rike eine Mahnung, sich zu beeilen.
Er griff nach dem nächsten Hebel und schaute seine Freundin an. »Wann erwartet der Haschpapi unseren Besuch?«
»Nenn ihn nicht so!« Sie zog die Brauen zusammen. »Heute fahren wir wohl nicht mehr hin. Und morgen ganz bestimmt nicht mit dem Ding da.«
Rommerskirchen hörte sie noch etwas von Affen und Schleifsteinen murmeln, bevor sie im Haus verschwand und die Tür hinter sich zuknallte.
Schon allein wegen der fehlenden Knautschzone wäre er nicht auf die Idee gekommen, mit Rike und dem Motorrad über die Autobahn zu preschen. Dafür standen ihm die Bilder von Einsätzen, zu denen er gerufen worden war, zu eindringlich vor Augen. Für einen Moment glaubte er sogar, verbranntes Gummi zu riechen. Musste sie ihn deshalb gleich aussperren? Er schnaubte. Sie wusste genau, dass er seinen Haustürschlüssel immer auf den Briefkästen im Hausflur liegen ließ. Und da lag er auch jetzt. Er griff zur nächstliegenden Schraubenmutter.
»Also gut«, murmelte er vor sich hin, hauchte auf die Schraube und polierte sie hingebungsvoll. »Wer will hier nach Gescher? Ich habe Zeit.«
In Nullkommanichts setzte er die Einzelteile des Bikes wieder zusammen. Und wartete. Wahrscheinlich hatte er die Maschine sogar schneller wieder zusammengebaut, als das Auseinandernehmen gedauert hatte.
Er wartete auf die Tatortmelodie, die sein Handy nur dudelte, wenn Rike seine Nummer gewählt hatte. Er wartete, dass sie nach ihm rief. Dieses Mal hätte er auch auf »Flip« gehört. Er wartete, dass sie zu ihm herauskam. Was sie natürlich nicht tat.
Irgendwann klingelte er doch. Anstatt einfach den Türsummer zu drücken, ließ Rike ihn zappeln. Es brauchte nicht lange, bis seine Geduld am Ende war. Immerhin redeten sie über die Gegensprechanlage miteinander.
»Mach jetzt die Tür auf, Rike. Oder muss ich die Polizei rufen?«
»Du bist die Polizei.« Er hörte sie kichern.
»Ich bin nicht im Dienst.«
»Dann ist ja gut. Ich dachte schon, ich müsste jetzt wirklich die Tür öffnen.«
»Rike!«
»Ich mag es, wenn du so energisch bist«, hauchte es aus dem Metallkästchen neben der Haustür. Rommerskirchen wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er wusste, wie das enden würde.
»Können wir das vielleicht oben klären, wo es nicht alle Nachbarn mitbekommen?«
Dass die Nachbarn gar nicht zu Hause waren, musste er ihr ja nicht auf die Nase binden. Natürlich hatte er inzwischen auch die anderen beiden Klingelknöpfe des Hauses gedrückt, aber niemand hatte geöffnet.
»Wäre dir das etwa unangenehm?«
Mit ihrem Säuseln hätte sie für die gut bezahlte Variante der Telefonseelsorge arbeiten können. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. »Es geht sie nichts an.«
Jedes Paar stritt sich eben auf eine besondere Art.
»Glaubst du, die Wände sind dick genug, dass sie es nicht mitbekommen?«
Und jedes Paar versöhnte sich anders.
»Wenn du mich reinlässt, können wir es herausfinden.«
Endlich betätigte sie den Türsummer.
In Windeseile stürmte er die Treppen nach oben, wo sie bereits am Treppenabsatz auf ihn wartete. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und umklammerte mit den Beinen seine Hüfte. Kaum war die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss gefallen, hatten sie es eilig, ihre Versöhnung zu feiern. Er streifte ihr das Shirt über den Kopf und hinderte ihre Lippen nur so kurz wie nötig daran, seinen Körper zu liebkosen. Sie lachte, schob sein T-Shirt hoch und schmiegte sich an ihn. Ein paar Schritte weiter war er seine Jeans endlich losgeworden und ließ sie achtlos liegen. Er hielt Rike am Handgelenk fest, damit sie ihm nicht davonwirbelte. Wieder lachte sie, warf ihre Locken in den Nacken und schlüpfte geschmeidig wie eine Katze aus ihrer Hose. Die Glöckchen an der Kette um ihr Fußgelenk klangen hell, als sie über seine Jeans hinwegstieg und die letzten Meter ins Bett hechtete. Er küsste ihren Knöchel, die Wade, das Knie und ließ sich mit ihr in den Strudel der Leidenschaft sinken. Sie liebten sich kurz und heftig. Erschöpft und verschwitzt lagen sie nebeneinander.
»Ein Sommergewitter«, raunte Rike ihm ins Ohr, als sie wieder zu Atem gekommen war.

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Leseprobe aus der überarbeiteten Neuauflage 2025

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